Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Aber wo ich in meinem Zorn selbst Mutter Gita dazu brachte, den Blick abzuwenden, fand ich nichts in mir, den Blick der Tempelmutter zu beeinflussen. So war es mir auch mit Mutter Meiko ergangen, wie mir nun bewusst wurde.
Gleich darauf stand ich am Ende der Treppe im Altarkreis. Ich war nie dort gewesen, hatte nie erwartet, dort zu sein, außer, wenn die Zeit gekommen war, meinen Schwur als Klinge abzulegen.
Die Tempelmutter musste das Gleiche gedacht haben, denn ihre ersten Worte waren: »Ich hatte gehofft, dass wir uns unter anderen Umständen hier begegnen, Green.«
»Mutter.« Sie war die einzige Mutter im ganzen Tempel der Lilie, die keinen Namen oder Titel außer dieser ehrenden Anrede brauchte.
»Du scheinst uns großen Ärger bereitet zu haben, meine Liebe.«
Obgleich ihre Stimme und ihre Worte freundlich klangen, erkannte ich den Ausdruck ihres Gesichtes. Diese Frau mochte in jüngeren Jahren sehr wohl mit den Klingen im Einsatz gewesen sein. Nicht, dass ich je so ein Gerücht vernommen hätte, aber die Härte sprach Bände.
»Ich habe getan, was notwendig war, Mutter.«
»Oh ja.« Sie begann, vor der großen Silberlilie auf und ab zu gehen, als führten wir beide ein Gespräch, ungeachtet der Anwesenheit der Tanzmistress an meiner Seite und den mehr als zweihundert anderen Zuhörerinnen. »Woher hast du gewusst, was notwendig war? Hat die Göttin zu dir gesprochen?«
»Manchmal«, sagte ich ruhig. »Aber ich verstand nie, was von mir verlangt wurde. Ihre Stimme war wie ferner Donner, Mutter. Sie sprach von Regen, aber sagte mir nicht, wie viel Wasser über meine Türschwelle fließen würde.«
»So ist das mit der Göttin zuweilen, Kind.« Die Stimme der Tempelmutter klang traurig. »Wenn Sie dir nicht gesagt hat, was notwendig war, woher kanntest du dann Ihren Willen?«
Ich holte tief Luft. Ich wusste nicht, wohin diese Fragen letztlich führen würden. Ich konnte nur folgen und versuchen, die richtigen Antworten zu geben. »Ich habe mir selbst ein Urteil gebildet.«
»Und haben dir Mutter Klinge und deine anderen Lehrerinnen nicht die eine wichtige Regel der Lilienklingen beigebracht?«
Diese Falle war mir vertraut. Ich war so sorglos hineingetreten wie ein Kind in eine Schlammpfütze. Ich sah keinen Sinn darin, darum herumzureden. »Wir urteilen nicht.«
»Sie hat geurteilt«, rief die Tempelmutter so laut, dass es in die höchsten Höhen des Allerheiligsten emporschallte. »Obwohl wir sie gelehrt haben, dies nicht zu tun.«
Applaus folgte den Worten und dann Stimmengemurmel. Die Tempelmutter sprach zur Straßengilde, wurde mir klar. Und zum Rohrdommelhof.
Ich muss widersprechen, dachte ich. Wenn sie gewollt hätten, dass ich stumm blieb, hätte mich Mutter Vistha darüber unterrichtet auf dem Weg hierher. »Wir urteilen ständig, Mutter«, rief ich laut. »Man lehrt uns, zu beurteilen, wann wir unsere Waffen nicht einsetzen sollen. Man lehrt uns, zu beurteilen, in welchen Streit wir eingreifen sollen und in welchen nicht. Wir beurteilen die ganze Zeit, denn gar nicht zu urteilen ist ein viel schlimmerer Fehler, als hin und wieder falsch zu urteilen.«
»Ihr … sollt … nicht … urteilen«, sagte die Tempelmutter. »Und in deiner Arroganz brachtest du eine gefährliche Ausländerin in unsere Stadt.«
Das war das Problem, an dem alles hing. Ich drehte mich zur Tanzmistress. Sie wirkte seltsam entspannt, trotz der heftigen Worte, die um sie herum fielen. Sicherlich entging ihr nicht die allgemeine Bedeutung der Worte der Tempelmutter, selbst wenn die Einzelheiten im Klang einer fremden Sprache verborgen blieben.
Wäre die Tanzmistress eine einheimische Frau gewesen, hätte sie Schutz vor dem Tötungsrecht genossen. Als Ausländerin war sie in Gefahr.
Eine andere Strategie kam mir in den Sinn. Ich musste fast lachen. Alles war längst verloren, was konnte ein weiterer Versuch noch anrichten? »Sie ist keine so gefährliche Fremde, Mutter. Mutter Vistha und Mutter Argai sagten mir, dass sie ein Tier ist.« Ich räusperte mich und sagte so laut ich konnte: »Tiere fallen nicht unter das Tötungsrecht.«
Jemand auf den oberen Sitzplätzen lachte laut auf, wurde aber rasch zum Schweigen gebracht.
»Sei vorsichtig, was du sagst«, meinte die Tempelmutter im Gesprächston. »Wenn sie ein Tier ist, können wir sie in den Übungsräumen anketten und ihr bei Waffenübungen das Leben nehmen.«
Wie die Schweine und Hunde, die ich getötet hatte, und wie den Stier, um den ich vor kurzem noch
Weitere Kostenlose Bücher