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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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hätte darin Platz gehabt.
    Federo trommelte an die Tür. Jemand öffnete sie von außen.
    Unser Wagen konnte von innen nicht geöffnet werden. Wieder ein Käfig.
    Er stieg aus und half mir hinab. Ich sah den Kutscher vorsichtig auf seine Bank zurückklettern. Seine Augen waren jetzt mit einem Seidentuch bedeckt. Am Kai hatte er dieses noch nicht gehabt.
    Für mich war das alles ein großes Rätsel.
    Gegenüber dem hohen Gebäude befand sich ein langgestrecktes zweistöckiges Bauwerk. Der obere Balkon hüllte das untere Stockwerk in tiefen Schatten. Seine Säulen hatten reiche Verzierungen, über die jetzt blühende Kletterpflanzen wuchsen. Ein glänzendes Kupferdach thronte auf dem Obergeschoss. Ein Granatapfelbaum wuchs in einer kleinen steinernen Umrandung mitten auf dem gepflasterten Hof. Irgendwie erinnerte mich dieser einsame Baum an mein Zuhause.
    Federo hockte sich nieder und blickte mir in die Augen. »Ab jetzt bist du unter Frauen. Du hast die Welt verlassen, bist nur noch an diesem Ort. Ich bin der einzige Mann, mit dem du sprechen wirst, abgesehen vom Faktor selbst, wann immer er dich besucht. Benutz deinen Kopf, meine Kleine.«
    »Ich habe einen Namen«, flüsterte ich erneut in meiner Sprache und dachte an Ausdauers Glocke.
    Er zauste mir die Haare. »Erst wenn dir der Faktor einen gibt.«
    Mein Madenmann stieg in den Wagen zurück und schloss die Tür. Der Kutscher legte den Kopf schief, als lauschte er, dann lenkte er sein Gespann vorsichtig um den Granatapfelbaum herum durch das kleine Tor, das unsichtbare Hände hinter ihm schlossen. Die Tore waren aus altem, schwarz gewordenem Holz und Eisen und Kupfer gefertigt. Sie wirkten so fest und unerbittlich wie die Mauern ringsum.
    Obgleich ich niemanden sah, vernahm ich ein heiseres Lachen.
    »Ich bin hier«, rief ich in meiner Sprache. Dann wiederholte ich es in Federos Worten.
    Nach einem Augenblick watschelte eine Frau, nicht viel größer als ich, aber fett wie eine Dorfente mit dazu passenden vorquellenden Lippen, aus dem Schatten des Balkons. Sie trug ein grobes schwarzes Gewand, das auch ihren Kopf bedeckte. »Du bist also die Neue.« Sie benutzte natürlich Federos Sprache. »Ich werde dir das schon austreiben …«
    Den Rest verstand ich nicht. Als ich zu fragen versuchte, was sie meinte, schlug sie mich aufs Ohr. Da wusste ich, dass ich nie mehr meine eigene Sprache verwenden durfte. Wie mich Federo schon gewarnt hatte.
    Ich nahm mir vor, ihre Sprache so gut zu lernen, dass mich diese Entenfrau nie wieder herumkommandieren konnte. Ich werde mich in Glocken kleiden, dachte ich stolz, und wenn ich hier fortgehe, wird mein Leben wieder in meiner eigenen Hand liegen.
    »Ich bin Mistress Tirelle.« Auch aus der Nähe sah sie wie eine Ente aus. Ihre Lippen ragten nach vorn, und ihre beiden Augen standen so weit auseinander, dass sie schon fast in die Schläfen zu kippen drohten. Sie trug ihr Schwarz voller Stolz. Nie sah ich sie in andere Farben gekleidet. Ihr schütteres Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt, mit Fäden verstärkt und schwarz gefärbt wie einen Bootsmannsstiefel.
    Sie war eine Frau wie ein Schatten, der eine Frau sein wollte.
    Mistress Tirelle schritt um mich herum und hin und her, um mich zu begutachten. Als ich mich umwandte, ergriff sie mich hart am Kinn und drehte es nach vorn. »Du bewegst dich niemals ohne einen Grund, Mädchen.«
    Ich wusste inzwischen, dass es keinen Sinn hatte, diesem alternden weiblichen Troll zu widersprechen.
    Sie beugte sich hinter mir herab. »Du hast keinen Grund, Mädchen, außer wenn der Faktor dir einen nennt. Oder ich an seiner Stelle.« Ihr Atem roch nach den nordländischen Kräutern, wie ich sie im Suppentopf auf der Schicksalsvogel kennengelernt hatte; beißend, aber ohne richtiges Feuer, und säuerlich.
    Die Frau fuhr fort, um mich herumzugehen. Das sehe ich, wie so vieles aus dieser Zeit, im Licht der späteren Erkenntnisse. Anfangs reichte ich ihr gerade bis zur Mitte, doch als unsere gemeinsame Zeit zu einem Ende kam, konnte ich bereits ihren Scheitel sehen, ohne mich strecken zu müssen. Irgendwie bin ich in den Erinnerungen beides gleichzeitig: das kleine, verängstigte Mädchen, das Federo aus den Feldern seiner Heimat fortgebracht hatte, und die wütende Törin, die aus diesen Blausteinmauern mit den kalt werdenden Hautfetzen einer toten Frau unter ihren Fingernägeln floh.
    Sie war die Erste, die ich tötete, zu einer Zeit, da ich es eigentlich schon besser hätte wissen müssen.

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