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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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wie möglich bekam. Ich bemühte mich, meine Gedanken zu sammeln.
    »So wie ich die Geschichte gelesen habe, waren die Götter und Göttinnen einst viel gewaltiger und mächtiger. Welttriebe hat Lacodemus sie genannt. Sie schufen die Rassen der Menschen und wahrscheinlich auch die anderen denkenden Wesen. Dann kam es zur theogonischen Ausbreitung. Kleine Fragmente ihrer Göttlichkeit wurden über die ganze Weltenplatte zersplittert. Einige dieser Fragmente wurden zum Splitter der Gnade, den wir alle in uns haben. Andere wurden die Götter und Göttinnen, wie wir sie in diesem Leben kennen.«
    Er wartete einen Augenblick, um festzustellen, ob ich nur innehielt, um Luft zu holen. »Eine gute Zusammenfassung dessen, was viele Menschen glauben.«
    »Ich habe auch gelesen, dass Götter und Göttinnen aus den Gedanken und Taten der Menschen entstehen. Dieser Choybalsan, zum Beispiel, wird zum Teil deshalb gefürchtet, weil er nach Göttlichkeit strebt.«
    »Allerdings«, stimmte Septio unverbindlich zu.
    »Ich habe auch gehört, dass die Götter den Menschen erschufen und dass der Mensch die Götter erschuf.« Ich lächelte. »Mit dieser Logik habe ich Probleme.«
    Er lachte erneut, nicht spöttisch, nur erfreut. Es war herzerwärmend. »Warum kann nicht beides wahr sein? Liegt es daran, dass du annimmst, dass die Zeit einen Anfang und ein Ende hat und dass daher eines von beiden zuerst kommen muss?«
    »Ich denke, ja …«
    »Die Welt hat keinen Anfang und kein Ende. Die Platte erstreckt sich in alle Ewigkeit unter dem Weg der Sonne. Warum sollte die Zeit Grenzen haben, wenn die Welt sie nicht hat? Es könnte sein, dass der Mensch die Götter erschafft und dass dann, irgendwann, die Götter den Menschen erschaffen. Jeder erweist dem anderen einen Dienst, wie zwei Federballspieler.«
    »Das kommt mir seltsam vor.« Ich versuchte, den Finger darauf zu legen, was mich an dieser Logik störte. »Ein Kind wird geboren. Ein Mädchen wächst heran. Eine Frau lebt. Ein altes Weib stirbt. Das Leben kommt aus ihrem Schoß und beginnt erneut. Das ist ein Zyklus, kein Kreis. Jede Pflanze und jedes Tier folgt diesem Kreislauf. Alle auf der ganzen Welt, ausgenommen die Götter.«
    »Du hast viel gelernt, Green.« Bewunderung schwang in seiner Stimme. »Überlege dir Folgendes: Du sagst, wir alle tragen einen Splitter von Gnade in uns. Könnte es nicht die Gnade sein, die durch die Zeit und die Generationen fließt, während wir und unsere Götter nur die Samen sind, die für ihren Fortgang sorgen?«
    Das war eine Menge zu verdauen. Auch wenn ich mich bisher nur in zwei Ländern aufgehalten hatte, so traf ich doch Seeleute aus einem Dutzend weiterer. Jedes besaß eigene Vorstellungen über den Weg der Seele. Das Rad der selistanischen Religionen unterschied sich sehr vom Übergang in das petraeanische Jenseits. Sie widersprachen sich aber auch nicht. Niemand verleugnete die Seele. Niemand verleugnete die Gnade. Nicht einmal ein schrecklicher, blutrünstiger Gott der Pein wie Schwarzblut.
    Der Rest des Tages war geprägt von interessanten Gesprächen und Reitproblemen. Es lag nicht so sehr an den Herausforderungen der Reitkunst als an der Streitbarkeit meines Pferdes. Ich ließ mich nicht unterkriegen.
    Als am Nachmittag die Pferde müde wurden, rasteten wir am Fuß des höchsten Passes auf einer der letzten Wiesen. Am nördlichen Himmel jenseits stieg Rauch auf. Unser kleiner Bach war hier oben nicht mehr viel mehr als ein Rinnsal, aber es gab Tümpel. Ich entdeckte Fische am sandigen Grund, bevor die Dunkelheit sie verbarg. Ich fragte mich, wie ihre Vorfahren den weiten Weg vom Meer hierhergekommen waren. Hatten sie kleine, kaltherzige Götter, die mit den Stimmen der Gezeiten sprachen?
    Mir tat noch immer alles weh, aber der heutige Ritt war bereits besser gewesen. Ich litt auch auf noch andere Weise und beobachtete Septio mit einem Gemisch aus Wohlgefallen und Bedauern.
    Als der Abend kam, machten wir kein Feuer, aus Angst, dass jemand das Licht sehen könnte. Septio untersuchte ein Geröllfeld am Fuß der östlichen Felswand, bis er eine unbewohnte Spalte fand, in der wir lagerten und ein kaltes Mahl zu uns nahmen.
    »Vom Gipfel des Passes aus wird der Tempel der Luft zu sehen sein«, sagte ich ihm. Ich hatte im Granatapfelhof viele Landkarten studiert. »Das ist der Rastplatz der Riesen. Von dort geht es in ein Hochtal, das ostwärts zum Eirigenepass verläuft.«
    »Wie weit ist es?«
    »Ich bin nicht sicher.« Ich blickte zu ihm,

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