Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
hätte diese Beschwörung nicht vollzogen. Meine Knie wurden weich und drohten nachzugeben, und ich erwog, mich in mein Messer zu stürzen.
Wasser sprühte auf mich herab. Eine einzelne Lilie schwebte in dem Strahl schwachen Sonnenlichts. Sie fing meinen Blick und nahm mir die Furcht. Die Göttin, fragte ich mich, oder ein achtloser Blumenverkäufer auf der Straße oben?
Spielte es eine Rolle? Kreise und Kreisläufe. Letztendlich konnten sie doch ein und dasselbe sein. Wunder wirkten immer am besten durch die Mechanismen des Alltäglichen.
Am Ende fand ich doch den Mut. Ich stellte die Glocke nieder und drehte mich um. Der hölzerne Klang hallte noch einen Moment aus der Dunkelheit wider.
Der Faktor stand schmutzig und grabesblass vor mir, so wie ich ihn vor den Ruinen seines Hauses gesehen hatte. Er sah nicht wie ein Geist aus – kein Trugbild, keine rauchige Gestalt. Er schien so real zu sein wie Mutter Eisen.
Seine Augen, obgleich verschleiert und dunkel, waren nicht tot. Der Rest seiner Erscheinung war es mit Sicherheit, doch Lachen und Tränen und noch viel mehr lebten in diesem Blick. Ganz anders, als er im Leben gewesen war.
Das erfüllte mich mit einer unerwarteten Hoffnung.
»Meine verlorene Smaragd kehrt endlich zu mir zurück«, sagte er.
Hoffnung in der Tat. Die alte Arroganz der Macht hatte der Tod ihm nicht wegzunehmen vermocht. Mit einem Lachen, das ganz von selbst kam, erwiderte ich: »Ich bin Green, frei von den alten Banden, und ich habe dich gerufen.«
»Ich weiß, wer du bist.«
Auch wenn ich seine ganze Niedertracht verstand, spürte ich einen Hauch Mitgefühl mit dem Schmerz, der über sein Gesicht glitt.
»Ich weiß, was du mir angetan hast«, fügte der Faktor hinzu.
»Es war notwendig.« Ich glaubte das, aber ich erkannte, dass ich es glaubte, weil man es mir so gesagt hatte.
»Wirklich?« Er lächelte in sich hinein. »Dann sag mir: Wie viele habe ich in meinen Jahrhunderten auf dem Thron getötet? Welche Kriege hat diese Stadt geführt? Hat das Geld seinen Wert verloren? Hat der Schiffshandel gelitten? Gab es Furcht und Mord auf den Straßen?«
Seine Fragen brachten mich kurz aus der Fassung. »Wie soll ich das wissen? Man hat mir nichts über die neuere Geschichte beigebracht, dass ich diese Dinge verstehen könnte. Ich wurde erzogen wie … wie …« Ich brach ab, als mir die ganze erbärmliche Wahrheit bewusst wurde. Leise fuhr ich fort: »Ich wurde wie eine Frau aus der Zeit deiner Jugend erzogen. Ich erfuhr nichts über die Welt, seit du den Thron bestiegen hast.«
»Die vielen Jahre sind sehr einsam«, sagte der Faktor. »Du hättest mich daran erinnert, wer ich einst war.« Seine Hand streckte sich aus, wie um mich zu berühren, dann ließ er sie wieder sinken. Es gab kein Geräusch, als er sich bewegte. Es erinnerte mich daran, dass er nicht wirklich hier war.
Eine Woge bitterer Wut stieg in mir auf. Seine Einsamkeit war der Grund für alles, was ich verloren hatte? »Ich hätte dir deine Jugend vorgegaukelt, bis das Alter mich dahinraffte. Während du in eine ewige Zukunft gingst.«
»Du wirst altern, ob mit mir oder ohne mich.« Er klang traurig. Seine Augen wurden feucht. »Was ist so schrecklich daran, in einem prunkvollen Palast alt zu werden, während dir eine Stadt zu Füßen liegt?«
»Du warst ein Tyrann!« Ich versuchte, mich an den alten Argumente festzuklammern, aber sie waren im Grunde nichts anderes als das, was man mir eingetrichtert hatte. Was wussten Kinder schon anderes als das, was man ihnen sagt.
»Ich war ein Tyrann, der der Stadt Frieden und Wohlstand und sichere Straßen brachte und der die Götter zum Schweigen brachte, sodass sie sich nicht täglich in die Geschäfte der Menschen einmischten.« Er seufzte, und ich wunderte mich, wie jemand ohne Atem das vermochte. Oder sprechen, nun da ich darüber nachdachte. »Mein Verbrechen, meine Tyrannei war es nicht, zu herrschen, sondern ganze Geschlechter zu überdauern und selbst deren Nachkommen.«
»Dein Verbrechen war es«, knurrte ich, »einem friedlichen Volk Macht zu entreißen und an dich zu binden.«
»Wie friedlich waren diese Völker?« Jetzt flammte sein Gesicht so leidenschaftlich wie meines. »Was weißt du über den letzten Krieg, den diese Stadt focht? Unter meiner Herrschaft, als ich noch lebte. Wir kämpften gegen die Genetten. Zu ihrer Zeit waren sie grausame Jäger und Plünderer. Andere schlossen sich ihnen an, denn sie hielten sie ihres Aussehens wegen für weise und
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