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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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einem Augenblick auszuwählen. Was als pure Quälerei begonnen hatte, war nun fast ein Spiel zwischen uns. Als ich die Binde nach einer guten Wahl abnahm, wurde die kleine Tür innerhalb des großen Tores von der anderen Seite geöffnet.
    Wir blickten Federo entgegen.
    An diesem Tag war er als vornehmer Kaufmann aus der Stadt gekleidet. Mistress Leonie hatte mir in letzter Zeit viel über die Bedeutung von Hüten, Federn, Schals und Anstecknadeln beigebracht – was ihre Anordnung über Rang und Position verriet, und auch, wie sie sich mit der Zeit veränderten, sodass keine Lektion lange Gültigkeit besaß.
    Er trug zwei gekreuzte Pfauenfedern auf der linken Seite an einem violetten Filzschal. Sein Anzug war ein passender violetter Cutaway im gleichen Filz. Darunter trug er ein cremefarbiges, links geknöpftes Hemd mit schmalem Stehkragen und drei silbernen Spangen. Seine Tweedhose im Fischgrätenmuster war in altamianischem Stil mit verjüngten Stulpen über dunkelvioletten, ledernen Halbstiefeln gehalten. Ein Tuch von so tiefem Blau, dass es fast schwarz wirkte, lag über seinen Schultern.
    Ich dachte mir, dass er ziemlich albern aussah, auch wenn sein Aufzug von einer gehobenen Stellung in der Gesellschaft kündete.
    »Hallo, Mädchen.« Federo nickte dann rasch Mistress Tirelle zu. »Wie macht sich die Kandidatin?«
    »Wenn die Zeit gekommen ist, Sir, wird mein Bericht fertig sein.« Sie bedachte mich mit einem giftigen Blick für die Unerhörtheit meiner Anwesenheit während dieses Gespräches.
    Ich senkte den Kopf und wartete, dass er sagte, was er von mir wollte.
    »Ich möchte mich eine Weile mit dem Mädchen unterhalten.« Seine Worte waren keine Bitte.
    »Ich werde im Empfangsraum warten.« Mistress Tirelle watschelte mit einem weiteren Blick, der nichts Gutes verhieß, davon.
    Ich faltete meine Hände, als sie in den Schatten der Veranda verschwand. Ich ahnte seit einer Weile, dass Federo und die Tanzmistress auf irgendeine Weise in meinem Fall gemeinsame Sache machten. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb – aber andererseits war so wenig in meinem Leben wirklich klar.
    Er sank auf ein Knie. »Du musst wissen, dass ich eine Weile fort sein werde. Möglicherweise ein Jahr oder länger.«
    Ich nickte.
    »Rede, Mädchen. Ich bin nicht eine deiner hirn- und herzlosen Mistresses.«
    »Leb wohl«, sagte ich. Obwohl ich nicht unhöflich zu ihm sein wollte, konnte ich in diesem Moment an nichts anderes denken als an den Tag, da er mich von Papa fortgebracht hatte. Machte er sich auf den Weg, weitere Mädchen einzukaufen?
    »Ich höre, dass du gute Fortschritte machst.«
    »Ich tanze gut.« Sein Lächeln sagte mir, dass ich das Richtige gesagt hatte. »Ausgezeichnet. Ich kann wenig tun, um dir zu helfen, außer deine Fortschritte zu überwachen. Andere … sie … vermag mehr.«
    »Ich bedaure meine Unhöflichkeit vorhin.«
    Schatten der Erinnerung verdüsterten seine Miene. »Die Wahrheit mag hart sein, aber ich halte sie nicht für unhöflich.« Er berührte mich am Kinn, als wollte er es vor- und zurückbewegen, um mich noch einmal genauer anzusehen. »Wir rennen alle gegen die Gitter, hinter denen wir leben.«
    »Dein Käfig ist die Welt«, sagte ich bitter, obgleich ich ihn nicht verletzen wollte.
    »Die Welt ist jedermanns Käfig. Einige Welten sind kleiner als andere.«
    Mit diesen Worten verließ er mich, um mit Mistress Tirelle zu sprechen. Ich stand allein mit dem Obstpflücker und den letzten Granatäpfeln des Jahres auf dem Hof.
    Mein nächster Lauf mit der Tanzmistress war der Auftakt zu der Art von Lerntätigkeit, wie wir sie den ganzen Winter über unternahmen. In dieser Nacht nahm sie mich zum ersten Mal mit über die Mauer, um eines der leeren Häuser des Faktors zu erkunden. Wir stiegen langsam staubige Treppen hinauf, wobei wir alle zwei oder drei Stufen innehielten, um zu fegen und den Staub wieder zu verteilen. Das war eine Offenbarung für mich, denn unter Mistress Tirelle hatte ich sehr schmerzlich gelernt, dass Staub ein Feind war. Doch hier präsentierte er sich als Freund, der unsere Spuren verbarg.
    Selbst in diesem Tempo erreichten wir das Dach in weniger als zehn Minuten. Dann lag ein Anblick von schrägen Dächern, Schornsteinen, kleinen Erhebungen mit Fenstern, Dachrinnen mit kleinen Regenkronen und Entlüftungsöffnungen vor mir. Kurz gesagt, eine Landschaft. Wie die Wäldchen zu Hause, nur dass diese Bäume aus Metall und Holz und Ziegel bestanden.
    »Dies ist ein Dach«,

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