Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
sagte die Tanzmistress. »Hier zu laufen ist auf vielfältige Weise gefährlich.«
»Ja, Mistress.«
»Selbst auf dem Wehrgang des Hauses des Faktors bist du weitgehend sicher, abgesehen vielleicht von der Möglichkeit, entdeckt zu werden. Hier könntest du leicht durch einen losen Ziegel oder einen rutschigen Stein in den Tod stürzen.«
»Ja, Mistress.«
Sie seufzte. »Eines Tages, wenn ich glaube, dass du bereit bist, werden wir anfangen zu springen.«
»Danke.« Sie schien auf etwas zu warten, deshalb stellte ich die Frage, die mich beschäftigte. »Wenn es so gefährlich ist, warum tun wir es dann?«
»Damit du eines Tages alles bist, was du sein kannst.«
»Du tanzt mit deinen anderen Schülern nicht so wie mit mir.«
»Nein, Mädchen, fast nie.«
Ihr Lächeln war traurig, das konnte ich selbst in der Dunkelheit sehen.
Wir begannen, mit leisen Warnrufen und kurzen Anweisungen im Mondlicht über die Dächer des Häuserblocks zu gehen. Ich lernte, wie man auf einer Schräge stand oder rutschte, wozu Firststangen gut waren, welche Schornsteine ich vermeiden sollte und auf welche Warnzeichen ich achten musste. Die Straße mit ihren Gesichtern, Gerüchen und bestimmten Gefahren war schwer durchschaubar gewesen. Hier oben war die Welt ebenso schwer durchschaubar mit Winkeln und Oberflächen und Gefahren ganz anderer Art.
Als der Frost einsetzte, boten die Dächer ganz neue Arten von Problemen. Selbst die Straße war schwierig zu überqueren, ohne im Schnee Spuren zu hinterlassen. Wir erkundeten den ganzen Winter über die stillen dunklen Häuserblocks rings um das Haus des Faktors. Die einzige Ausnahme waren jene Wochen, in denen das Wetter mir beim Aufenthalt draußen wahrscheinlich eine Erkältung eingetragen hätte, um nicht Mistress Tirelles Misstrauen zu wecken.
Der Entenfrau entging meine gehobene Stimmung in dieser Zeit nicht, und sie begann, mich eingehend darüber auszufragen, ob eine der anderen Mistresses vielleicht verbotenes Material in den Unterricht mitgebracht hatte. Natürlich würde ich niemals das Geheimnis der Tanzmistress verraten, weshalb ich Andeutungen machte, die dazu führten, dass sie Mistress Leonie, Mistress Danae und all die anderen mit zunehmendem Misstrauen beobachtete. Ich sah mit Vergnügen, wie sich diese gemeinen und verbitterten Frauen gegenseitig das Leben schwer machten. Sie ließen auch meines nicht zum Honiglecken ausarten, aber wenigstens war nicht ihre ganze Aufmerksamkeit darauf ausgerichtet, mich zu erniedrigen.
Wie angekündigt kam Federo über ein Jahr lang nicht zurück. Ich wurde größer und fohlenhaft, was, wie mir wiederholt versichert wurde, bis zu meiner Entwicklung zur Frau so bleiben würde. Ich wurde auch ungeschickt, was sowohl der Tanzmistress als auch mir bei unseren täglichen Übungen und nächtlichen Ausflügen auf die Dächer zu schaffen machte.
Mistress Ellera traf ein, um mich in der Kunst des Malens und Zeichnens zu unterrichten, und zusammen entdeckten wir ein Talent, das keiner in mir vermutet hatte. Bald vermochte ich, ein außerordentlich ansprechendes Porträt in Schwarz und Grautönen auf ein aufgespanntes Blatt Papier zu zeichnen. Es machte mir Spaß, alle meine Mistresses zu porträtieren, bis mich Mistress Tirelle zwang, damit aufzuhören. Sie schien spöttische Darstellungen zu fürchten. Aber Mistress Elleras Palette von Farben und Schattierungen und Pinselstrichen öffnete mir ein Fenster in eine ganz neue Welt.
Fast verlor ich meine Privilegien, als ich gedankenlos ein Bild von Ausdauer, wie er in einem Reisfeld stand, anfertigte. Mistress Tirelle argwöhnte sofort, was das Bild bedeutete, doch ich log überzeugend genug, dass es sich um Prinz Zahars heilige Kuh aus einem von Mistress Danaes Bilderbüchern handelte.
Ansonsten bekam ich gelegentlich Schläge, weil ich etwas aus dem Unterricht vergaß, oder wenn ich unaufgefordert sprach. Das Leben ging seinen üblichen Lauf.
Ungeachtet meiner Ungeschicktheit liefen die Tanzmistress und ich immer ausgedehnter über die Dächer. Wir folgten Straßen in größere Entfernung vom Haus des Faktors, bevor wir ein dunkles Abflussrohr oder ein Weinspalier emporkletterten. Die Gegenwart von Menschen beunruhigte und verstörte mich nicht mehr so sehr, aber ich zog die Stille hoch oben auf den Dächern vor.
Wir begegneten auch einigen anderen dort. Es waren seelenverwandte Nachtschleicher und Wanderer, für die die Stille der schönste Empfang und der zärtlichste Abschied waren. Wir
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