Der verbotene Fluss
gewesen, hatte sie geradezu beflügelt. Endlich zerriss das Netz, das man um Chalk Hill gesponnen hatte, endlich konnte sie einen Stein aus der Mauer brechen, die Emily Clayworth umgab. Warum nur bekam sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Nora dachte?
Sie holte tief Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich auf Emily, die gerettet werden musste, ob nun vor Geistern oder der qualvollen Erinnerung an ihre Mutter. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam gelacht hatten, wie Emily sie umhergeführt und ihr die Kaninchen im Garten des Pfarrers gezeigt hatte. Charlotte war niemandem verpflichtet – außer ihr.
Am Nachmittag fuhr Wilkins Tom, Charlotte und Emily nach Mickleham.
»Bei schönem Wetter kann man auch zu Fuß gehen«, erklärte Charlotte. »Es ist ein hübscher Spaziergang.«
»Können wir das im Frühjahr einmal machen, Fräulein Pauly?«, fragte Emily, die angesichts der Aussicht, die Kaninchen zu sehen, fröhlicher wirkte als in den vergangenen Tagen.
»Natürlich, Emily.«
»Schade, dass Mr. Ashdown nicht dabei sein kann.«
Tom lächelte. »Vielleicht komme ich dafür im Frühjahr noch einmal her. Es ist nicht weit von London. Box Hill soll auch sehr schön sein für einen Ausflug, wie man mir im Hotel erzählte.«
»Das haben Fräulein Pauly und ich auch noch vor. Kommen Sie für zwei Tage, dann können wir nach Mickleham wandern und ein Picknick auf Box Hill machen.«
»Es wäre mir ein besonderes Vergnügen.«
Charlotte wünschte sich, dieser Augenblick, dieser kurze Moment unbeschwerter Fröhlichkeit, möge ewig währen. Zwischen Mr. Ashdown und ihr herrschte ein Einverständnis, als würden sie einander schon lange kennen, und sie musste aus dem Fenster der Kalesche schauen, um ihr plötzliches Erröten zu verbergen.
Vor dem Pfarrhaus hielt Wilkins an. »Mein Bruder wohnt in der Nähe. Wenn es Ihnen recht ist, besuche ich ihn und komme in zwei Stunden wieder.«
»Fahren Sie nur, Wilkins.«
Tom half Charlotte und Emily beim Aussteigen und öffnete seinen Regenschirm, wobei er einen ungehaltenen Blick zum Himmel warf. »Ich hatte gehofft, eine kleine Runde durch den Ort zu drehen.«
Charlotte sah ihn fragend an, doch bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Haustür geöffnet, und die freundliche Mrs. Morton trat unter das Vordach.
»Kommen Sie rasch herein – was für ein unfreundliches Wetter! Wie schön, dass Sie trotzdem den Weg zu uns gefunden haben.«
Mr. Ashdown stellte sich vor und wurde vom Pfarrer, der in Hemdsärmeln herbeigeeilt war, herzlich begrüßt.
»Verzeihen Sie, ich musste mich umziehen, ein Krankenbesuch, ein unerfreulicher Zwischenfall.« Er zog seine Weste über und knöpfte sie sorgfältig zu, bevor er allen die Hand gab.
»Die Kaninchen warten schon auf dich, Emily. Ich hoffe, du hast ihnen etwas Gutes mitgebracht.«
Das Mädchen hielt ihm lächelnd einen Korb Möhren entgegen.
»Wunderbar. Sollen wir warten, bis der Regen aufhört oder …«
»Bitte, Mr. Morton, bitte, Fräulein Pauly, darf ich gleich hingehen?«
Charlotte nickte. »Aber du lässt Mantel und Hut an und nimmst Mr. Ashdowns Schirm mit.«
»Sie nimmt auch Mr. Ashdown mit«, erklärte Tom und nickte den Damen zu. »Ich verabschiede mich, um die Tiere in Augenschein zu nehmen, die der jungen Dame so am Herzen liegen.«
Mrs. Morton führte Charlotte ins Wohnzimmer und bot ihr einen Platz an. Im benachbarten Speisezimmer war schon der Teetisch einladend gedeckt.
»Was für ein reizender Herr«, sagte sie. »Und er ist ein Bekannter von Sir Andrew?«
»Ja, ein Journalist aus London. Er schreibt für die Times. «
»Wie interessant. Nun, ich hoffe, dass Sie sich in Chalk Hill inzwischen eingelebt haben.«
Charlotte berichtete von ihren Spaziergängen im Wald und der Begegnung mit dem Wildhüter von Norbury Park.
»Ja, der Druid’s Grove ist sehenswert, wenngleich ich ihn ein wenig unheimlich finde, vor allem im Herbst und Winter. Vielleicht liegt es an seinem unchristlichen Namen«, fügte die Pfarrersfrau lächelnd hinzu.
Nachdem sie über dies und das geplaudert hatten, fragte Charlotte beiläufig: »Wussten Sie eigentlich, dass Emilys Kindermädchen die Enkelin der alten Tilly Burke ist?«
Mrs. Morton schaute sie lächelnd an. »Gewiss. Ein nettes Mädchen, sie hat zum Glück nichts von der Großmutter. Sie wissen schon, was die Gesundheit betrifft.« Die Pfarrersfrau wirkte völlig mit sich im Reinen, und Charlotte fragte sich erneut, ob sie manchen Dingen eine Bedeutung
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