Der verbotene Fluss
war in seine Wohnung nach Clerkenwell gefahren.
Nun aber gewann Charlottes Begeisterung die Oberhand, und sie wäre am liebsten in lautes Entzücken ausgebrochen. Das übernahm Emily für sie, die ihre Angst, Chalk Hill zu verlassen, zumindest vorübergehend vergessen hatte. Als der Wagen über die Westminster Bridge rollte, deutete sie aufgeregt auf das Parlamentsgebäude, das links von ihnen das Themseufer beherrschte.
»Sehen Sie, Fräulein Pauly? Da ist der Clock Tower mit Big Ben, davon hat Papa mir erzählt! Es ist kurz vor eins. Dann schlägt sie gleich, nicht wahr?«
Ihr Vater nickte. Emily hatte Glück, denn auf der Brücke herrschte ein großes Gedränge unterschiedlichster Kutschen und Fuhrwerke, sodass sie nur langsam vorankamen. In dem Augenblick, in dem sie den Turm passierten, schlug die Glocke, und das Mädchen strahlte vor Begeisterung.
Geduldig beantwortete ihr Vater alle Fragen und fügte Erklärungen für Charlotte hinzu. Fern von Chalk Hill und seinen Erinnerungen wirkte er gelöster, als lenkte auch ihn die überwältigend große und lebendige Stadt von seinen Sorgen ab.
Während der Zugfahrt hatte Charlotte einen ersten Eindruck von der gewaltigen Ausdehnung der Hauptstadt gewonnen, die ihre Vororte wie Tentakel ins grüne Umland streckte und sich von Menschen zu ernähren schien, die mit der Eisenbahn aus allen Richtungen ins Zentrum des Molochs strömten. Dennoch empfand sie die Stadt nicht als bedrohlich; sie übte einen unwiderstehlichen Sog auf sie aus, und sie wünschte sich, einfach draufloszumarschieren und erst wieder stehen zu bleiben, wenn ihre Füße den Dienst versagten.
Sie fuhren am St. James’ Park und dem Buckingham Palace vorbei, wo Emily große Augen machte und fragte, ob die Königin wohl zu Hause sei.
»Ja, das ist sie«, erwiderte Sir Andrew gelassen.
»Woher weißt du das?«, fragte Emily staunend.
»Siehst du die Flagge dort? Das ist die königliche Standarte. Die drei goldenen englischen Löwen, der aufrechte schottische Löwe in Rot und die irische Harfe. Wenn sie weht, ist die Königin zu Hause.«
»Das ist praktisch, dann können alle Leute sehen, ob sie da ist«, sagte Emily. »Ich hätte auch gern eine Flagge.«
»Das ist eine gute Idee«, bemerkte Charlotte. »Du könntest eine Flagge für deine Familie entwerfen und ein Stickbild daraus machen.«
»Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Sir Andrew.
»Was ist mit Mr. Ashdown?«, erkundigte sich Emily, als wollte sie ihn von den ungeliebten Handarbeiten ablenken. »Wohin ist er gefahren?«
»Nach Hause«, erklärte ihr Vater. »Er muss sich ein bisschen erholen.«
»Kommt er uns besuchen, wo er doch in London wohnt?«
Charlotte schaute Sir Andrew prüfend an. Auch sie hätte gern gewusst, wie er sich das weitere Vorgehen dachte. Vielleicht wollte er zunächst abwarten, ob sich Emily in der neuen Umgebung erholte. Mr. Ashdown hatte ihr seine Visitenkarte gegeben und sie gebeten, ihn sofort telegrafisch zu verständigen, falls etwas Wichtiges geschah. Sie hatte niemanden mehr, mit dem sie über die jüngsten Ereignisse sprechen konnte, und fühlte sich allein gelassen. Sie betrachtete Emily mit anderen Augen als zuvor und fragte sich, ob das Mädchen – falls Dr. Pearson die Wahrheit gesagt hatte – irgendetwas von den Taten der Mutter mitbekommen hatte. Und wenn ja, ob ihr bewusst war, was ihre Mutter ihr angetan hatte. Bitte nicht, dachte sie bei sich, sie soll es nicht wissen, nur das nicht! Sie musste tief durchatmen, um die aufsteigende Angst zu vertreiben.
Am Morgen hatte es Tränen gegeben, als sich Nora von Emily verabschieden musste. Sie ahnte wohl, dass ihre Tage als Kindermädchen gezählt waren. Noch einmal hatte sie Charlotte beiseitegenommen und flehentlich auf sie eingesprochen: »Sie dürfen ihm nicht glauben, Miss, Dr. Pearson hatte unrecht! Lady Ellen hätte niemals so etwas getan. Sie war die beste Mutter der Welt.«
Charlotte hatte ihr tröstend die Hand auf die Schulter gelegt. »Mach dir keine Sorgen.«
»Was wird denn jetzt aus mir? Wann kommt Emily zurück? Ich werde hier doch gar nicht mehr gebraucht. Sir Andrew hat gesagt, ich soll mich so lange um meine Großmutter kümmern. Aber ich weiß nicht …«
»Eine gute Idee. Sie wird sich freuen, nicht allein zu sein.«
Dennoch hatte sie Nora mit einem hohlen Gefühl im Bauch zurückgelassen.
Charlotte wusste, dass Sir Andrew ein wohlhabender Mann war, staunte aber dennoch, als sie in das Viertel gelangten, in dem sich
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