Der verbotene Fluss
wird Emily tatsächlich von Geistererscheinungen heimgesucht, oder es gibt für alles eine rationale Begründung, und ihr Leiden ist rein seelischer Natur. Auf jeden Fall liegt alles in Lady Ellens Tod begründet.«
»Dann spiele ich einmal den Advocatus Diaboli«, warf Sidgwick ein. »Was ist mit diesem Abschiedsbrief, von dem sie angeblich nicht gewusst haben kann? Und dem Spitzenschal, den man am Flussufer gefunden hat?«
Tom überlegte. »Denkbar, dass sie den Brief doch irgendwo gesehen hat. Oder dass sie gehört hat, wie jemand über ihn oder den Schal sprach. Selbst wenn Sir Andrew den Dienstboten untersagt hat, diese Dinge zu erwähnen, wäre es dennoch möglich, dass es Klatsch gegeben hat. Die Dienstboten könnten es auch Dritten erzählt haben, die es wiederum Emily zutrugen. Da wäre beispielsweise Nora, das Kindermädchen. Sie spielt ohnehin eine sonderbare Rolle in der ganzen Angelegenheit. In diesem Fall wäre es kein Fall für die Society.«
Sidgwick zog die Augenbrauen hoch, holte sein Zigarrenetui aus der Rocktasche und bot Tom eine an, der dankend ablehnte und zu einer Zigarette griff. »Also werden Sie den Fall aufgeben?«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Tom empört. »Dazu ist er viel zu interessant.«
»So wie die Gouvernante?«
Tom wandte sich ab, als er die Wärme in seinem Gesicht spürte. »Wie meinen Sie das?«
Der Professor paffte genüsslich die Zigarre und betrachtete seine gepflegten Hände. »Nun, ich habe auch ein bisschen Detektiv gespielt und Schlüsse aus Ihrer Erzählung gezogen. Der Name Pauly fiel erstaunlich oft –«
»Was nur natürlich ist, da sie einen engen Umgang mit Emily pflegt.«
»Sie haben einen Nachmittag in einer Teestube mit ihr verbracht –«
»Wobei ich alle Regeln des Anstands gewahrt habe.«
»Sie haben Erkenntnisse und Theorien mit ihr geteilt, von denen Sie Sir Andrew kein Sterbenswort verraten haben –«
»Wofür ich durchaus gute Gründe hatte.«
»Und nicht zuletzt haben Sie sich von ihr mitten in der Nacht verbinden lassen und sie allein in ihrem Zimmer aufgesucht.«
» Touché, Henry. Sie ist eine interessante Frau.« Tom schaute seinen Gast herausfordernd an, der belustigt die Asche von seiner Zigarre klopfte.
»Schade, dass meine liebe Eleanor nicht hier ist. Sie ist eine gute Menschenkennerin.«
»Könnten wir bitte zum Thema zurückkehren?«, fragte Tom, dem das Gespräch allmählich unbehaglich wurde.
»Aber natürlich. Verzeihen Sie, wenn ich zu weit gegan gen bin.«
Tom bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass die Sache erledigt sei.
»Vom medizinischen Standpunkt aus stellt sich die Frage, ob der Arzt mit seinen Vermutungen recht hatte, und falls ja, ob Lady Ellen unter einer Geisteskrankheit gelitten hat.«
Sidgwick verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Tom nachdenklich an. »Ich werde mich in medizinischen Kreisen umhören, ob eine derartige Störung wissenschaftlich belegt oder zumindest denkbar ist. Und Sie warten ab, wie sich das Mädchen in der neuen Umgebung verhält.«
»Abwarten gehört nicht zu meinen Stärken«, bemerkte Tom lachend. »Ich werde mich in den nächsten Tagen am Chester Square einfinden, um Miss Emily Clayworth in London willkommen zu heißen.«
Nachdem sich Sidgwick verabschiedet hatte, setzte sich Tom an den Schreibtisch und ging die Post durch, die Daisy ihm wie üblich auf ein Tablett gelegt hatte. Sobald er alle Briefe durchgesehen hatte – darunter auch ein Telegramm seines Chefredakteurs, der sich mit kaum verhohlener Ungeduld nach der nächsten Rezension erkundigte –, goss er sich noch einen Brandy ein. Die Verletzung juckte, was er als Anzeichen der beginnenden Heilung deutete. Er streckte die Beine aus, lehnte sich bequem zurück und ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern.
Er spürte eine Unruhe, die er nicht näher zu benennen vermochte und die, da war er sicher, nichts mit dem Fall Clayworth zu tun hatte. Er schaute in die Ecke, in der Lucy gern gesessen hatte, als könnte er dort die Antwort finden. Dann erinnerte er sich an den Brief von Sarah Hoskins, den er im Hotel erhalten und bislang nicht beantwortet hatte. Ihm war nicht danach gewesen, da die Ermittlung, wie er es bei sich nannte, seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. War es das, was ihn unbewusst beschäftigte? Hätte er zurückschreiben und einige freundliche Zeilen für Emma Sinclair beifügen sollen? Die Vorstellung behagte ihm nicht.
Tom stand auf, streifte die lästige Schlinge
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