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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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und trat ein.
    »Dürfte ich Sie kurz sprechen?«
    »Natürlich«, sagte Sir Andrew und blickte von seinen Papieren auf. »Nehmen Sie Platz.«
    Sie setzte sich zögernd auf die Stuhlkante und berichtete von dem Vorfall auf der Straße und was Emily beim Tee darüber gesagt hatte. Er wurde blass.
    »Was halten Sie davon?«
    Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ein Traum oder Schlafwandeln fällt als Erklärung aus.« Sie zögerte. »Vielleicht hat sie so fest an ihre Mutter gedacht und sich Sorgen wegen ihrer Abreise gemacht, dass sie sich die Stimme eingebildet hat. Das wäre durchaus denkbar.« Sie bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, und sah, wie die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.
    »Ja, das wäre eine Erklärung.« Er schaute sie abwartend an. Charlotte bemühte sich, ruhig zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie von ihren eigenen Worten nicht überzeugt war. Doch was sonst hätte sie ihm sagen können – dass seine Tochter entweder unter Halluzinationen litt oder tatsächlich von einem Geist heimgesucht wurde?
    »Sollte es weitere Vorfälle geben, was ich nicht hoffe, verständigen Sie mich bitte umgehend. Ich möchte wissen, was mit meiner Tochter geschieht. Sie brauchen mich nicht zu schonen.« Es klang fast, als wüsste er, wie sehr sie vorhin mit sich gerungen hatte.
    Charlotte wollte gerade aufstehen, als es an die Tür klopfte. Lizzie trat mit einem Tablett ein, auf dem ein Telegramm lag. Sir Andrew wollte danach greifen, doch das Hausmädchen wandte sich an Charlotte. »Für Sie, Miss.«
    Charlotte wagte nicht, ihren Arbeitgeber anzuschauen, als sie es mit klopfendem Herzen entgegennahm und zur Tür ging.
    Das Telegramm war ebenso kurz wie charakteristisch.
    Halten Sie durch. Wappne mich gerade für einen durchwachsenen Hamlet. Bis morgen, T. A.
    In der Nacht blieb alles still, doch Charlotte schlief unruhig und wachte immer wieder von wirren Träumen auf. Sie konnte sich nur an einen erinnern, in dem eine Frau einer uralten Eibe im Druid’s Grove entstieg und sie mit schmeichelnder Stimme zum Fluss lockte.

33
    Sir Andrew bat Charlotte, Mr. Ashdown zu empfangen.
    »Ich bin den ganzen Tag im Parlament und lasse Ihnen freie Hand«, sagte er beim Frühstück. »Sie können ihm erzählen, was sich gestern zugetragen hat, aber wir waren uns ja einig, dass dieser Vorfall vermutlich natürliche und erklärbare Ursachen hat.«
    Nicht ganz, dachte Charlotte. Sie waren sich nicht einig gewesen; sie hatte ihm eine mögliche Erklärung geliefert, die er bereitwillig akzeptiert hatte, die sie deswegen aber noch lange nicht teilte.
    Den ganzen Vormittag über musste sie sich immer wieder zur Ordnung rufen und ihre umherwandernden Gedanken auf den Unterricht lenken. Zu ihrer Erleichterung schien Emily nicht zu merken, wie zerstreut sie war, und arbeitete fleißig mit.
    Kurz nach Mittag wurde es auf einmal beängstigend dunkel. Sie schauten einander an, dann sprang Emily auf und lief ans Fenster. »Der Himmel ist ganz gelb!«
    Charlotte trat zu ihr. Tatsächlich war der ganze Platz in ein schwefelgelbes Licht getaucht, das Häuser, Bäume und Laternenpfähle seltsam unwirklich erscheinen ließ.
    »Was ist das?«, fragte das Mädchen.
    In diesem Augenblick hörten sie ein Grollen, ein plötzlicher Wind kam auf, bog selbst dicke Äste und drückte das Gras in der Mitte des Platzes flach auf den Boden. Welkes Laub wurde bis zu den Dachrinnen hochgewirbelt und tanzte in der gelben Dämmerung.
    »Ein Gewitter.«
    »Um diese Jahreszeit?«
    »So etwas kommt vor, Emily. Lass uns zuschauen – ich mag Gewitter.«
    »Hoffentlich ist Mr. Ashdown in Sicherheit«, sagte das Mädchen besorgt.
    Hoffentlich kommt er überhaupt, dachte Charlotte.
    »Bestimmt ist er das. Ich vermute, er ist noch nicht aufgebrochen und wartet das Gewitter ab.«
    Seite an Seite standen sie am Fenster und schauten zu, wie der Wind immer heftiger an den Bäumen zerrte und Papierfetzen quer über die Straße trieb. Der Donner wurde lauter, die ersten Blitze zuckten über den Himmel.
    »Im Sommer mag ich Gewitter lieber, dann riecht es so gut nach Staub«, sagte Emily.
    »Und danach ist die Luft ganz frisch. Aber ich mag sie auch im Winter, weil sie so überraschend kommen. Weißt du, was bei einem Gewitter passiert?«
    »Nicht richtig.«
    Also nutzte Charlotte die Unterbrechung, um ihr eine kleine Lektion in Physik zu erteilen.
    »Und wie ist das mit dem Unterstellen?«, wollte Emily wissen. »Darf ich unter einen Baum gehen

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