Der verbotene Fluss
kenne ältere Hauslehrerinnen, kranke, vorzeitig gealterte Frauen, die ein armseliges Dasein fristen, weil sie ihren Beruf nicht mehr ausüben können oder wollen.«
Er sah sie bestürzt an. »Dann bitte ich erneut um Verzeihung. Frauen wie Sie werden meist als selbstverständlich erachtet, weil sie zu einem Haushalt wie diesem gehören, aber man bedenkt nicht, dass sie …«
»… keine gefühllosen Holzklötze sind?« Charlotte lächelte schon wieder.
»So unverblümt hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ja, es ist etwas Wahres daran.«
»Bei Emily muss ich selten streng sein. Sie ist ein sehr liebes, fleißiges Mädchen, und wenn ich sie tadele, ist es meist nur ihrem Übereifer geschuldet. Aber wir sollten nicht über mich sprechen.«
»Natürlich. Ihr Telegramm. Erzählen Sie mir, was gestern passiert ist.«
Charlotte schilderte ihm den Vorfall so genau wie möglich.
»Das war alles?«
»Ja. Emily ist erst damit herausgerückt, als wir beim Tee saßen. Ihre Stimmung hatte sich wieder gewandelt, sie wirkte völlig unbeschwert. Als hätte sich ein Schatten über sie gelegt und wäre wieder verschwunden. Meinen Sie, sie hat wirklich etwas gehört? Ich kann es einfach nicht glauben.«
Mr. Ashdown schaute sie nachdenklich an. »Ich bin kein Experte für solche Dinge. Ich habe Dr. Henry Sidgwick den Fall geschildert, und er sieht keine eindeutigen Anzeichen für ein übernatürliches Phänomen.« Er zögerte. »Wenn ich ehrlich bin, liegt die Lösung meines Erachtens in Chalk Hill und der unmittelbaren Umgebung. Es gibt so viele offene Fragen, die weit über Emilys Erscheinungen oder wie immer wir es nennen wollen hinausgehen. Doch wir werden sie nicht beantworten können, solange Sir Andrew sich weigert, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ehrlich gesagt, ich bin mit meiner bescheidenen Weisheit am Ende.«
Charlotte sah ihn beklommen an. Wenn er nicht weiterwusste, wer dann? Die Vorstellung, mit Sir Andrew und dem Mädchen nach Chalk Hill zurückzukehren und weiterzuleben wie bisher, jagte ihr plötzlich Angst ein.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Mr. Ashdown besorgt.
»Verzeihung, mir war nur – etwas schwindlig.«
Die Stimmung hatte sich verändert, sein Blick zeugte von großem Ernst. »Sie fürchten sich, Miss Pauly.«
Sie sah zu Boden. »Ich … Ich weiß nicht, ob ich so weiterleben kann.« Sie atmete tief durch. »Wenn Sir Andrew nach Hause zurückkehren will – immerhin ist bald Weihnachten – und es fängt wieder von vorn an …« Sie biss sich auf die Lippe, um keine Schwäche zu zeigen. »Ich will Emily nicht im Stich lassen, aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, weiter in diesem Haus zu leben. Nachts auf Schritte zu horchen. Mich vor dem Wald zu fürchten. Oder davor, dass Emily irgendwann aus dem offenen Fenster …«
Sie spürte die Berührung und blickte hoch. Mr. Ashdown war neben sie getreten und hatte ihr sanft die Hand auf den Arm gelegt.
»Ich werde mit Sir Andrew sprechen und ihm berichten, was ich weiß und vermute.«
»Wenn Sie das tun, wird er Nora entlassen!«
»Vielleicht hätte er das längst tun müssen«, sagte er mit ruhiger Stimme.
»Warum? Meinen Sie …«
»Ich bin mir so gut wie sicher, dass Nora etwas mit den nächtlichen Vorfällen zu tun hat. Vor allem nach ihrem seltsamen Ruf am Fenster.«
»Aber warum sollte sie Emily schaden wollen?«
»Womöglich will sie das gar nicht. Womöglich will sie nur ihr Bestes«, lautete die provokante Antwort.
Die Wohnung war geräumig, aber deutlich hellhöriger als das Haus in Surrey, und Charlotte gab sich keine Mühe, die Ohren zu verschließen. Die laute Männerstimme ließ nichts Gutes hoffen.
»Das ist unerhört!«, verkündete Sir Andrew. »Wie können Sie es wagen, derart widerlichen Klatsch zu verbreiten? Ich habe Dr. Pearson nicht umsonst das Haus verboten!«
Mr. Ashdowns Antworten waren nicht zu verstehen, sie konnte sich nur zusammenreimen, was er sagte.
»Natürlich ist das gelogen! Ich bereue den Tag, an dem ich Sie nach Chalk Hill geholt habe. Sie haben nichts bewirkt, nur neue Unruhe gestiftet. Wenn Sie sich dieser Wohnung oder mei ner Tochter noch einmal nähern, werde ich mich an die Polizei wenden!«
Charlotte drückte sich enger an die Wand, als die Tür aufflog und Mr. Ashdown heraustrat. Dann schlug sie hinter ihm zu. Er strich sich über den Ärmel, als müsste er sich von irgendeinem Schmutz befreien, und wandte sich in Richtung Ausgang. Doch er drehte sich um, als er ihre
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