Der verbotene Fluss
Berührung spürte.
»Miss Pauly.« Er lächelte betrübt. »Leider ist es mir nicht gelungen, Sir Andrew zu überzeugen.«
»Er hat Sie hinausgeworfen«, sagte sie leise.
»So kann man es nennen. Das ist mir seit meiner Studentenzeit nicht mehr passiert.«
»Warum müssen Sie alles ins Komische ziehen?«, fragte sie beinahe zornig.
Er zuckte mit den Schultern. »Weil sich manches nur so ertragen lässt.«
Sie nickte. »Und jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie wollte gerade etwas sagen, doch dann erklang ein Schrei, wie sie ihn noch nie gehört hatte.
Sie stürzte in Emilys Zimmer. Das Mädchen saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bett und drückte sich gegen das Kopfende. Charlotte merkte kaum, dass Mr. Ashdown ihr nachgekommen war.
»Was ist hier los? Weshalb sind Sie noch hier?«
Sir Andrew drängte sich an ihnen vorbei und trat neben das Bett. »Was ist mit meiner Tochter passiert?«
»Ich bin gerade erst hereingekommen«, sagte Charlotte und setzte sich vorsichtig neben das Mädchen.
»Emily, was ist los?«
Sie nahm ihre Hand.
Mr. Ashdown stand noch immer in der Tür. Es war plötzlich ganz still im Zimmer, als hielten vier Menschen gemeinsam den Atem an. Dann begann Emily mit einer Stimme zu sprechen, die vollkommen fremd klang.
»Mama wollte mich holen. Sie hat nach mir gesucht, aber ich war nicht da. Sie hat geglaubt, ich komme nicht mehr wieder. Dann ist sie in das Turmzimmer gegangen und hat ein Tuch genommen. Dann hat sie es in Stücke gerissen und sie aneinandergeknotet …«
Emily sackte in sich zusammen.
»Wir müssen einen Arzt holen«, sagte Sir Andrew.
»Das übernehme ich«, entgegnete Mr. Ashdown rasch. »Geben Sie mir die Adresse.«
Sir Andrew notierte etwas auf einem Blatt Malpapier, gab es ihm wortlos und nickte zum Dank.
Dann wandte er sich Charlotte zu. In seinem Blick lag tiefe Verzweiflung, und sie verspürte aufrichtiges Mitleid mit ihm.
Sie legte eine Decke über Emily und fühlte ihren Puls. »Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Es ist sicher nichts Schlimmes.«
»Nichts Schlimmes?« Er sprach so laut, dass sie ihn am Arm ergriff und aus dem Zimmer zog. »Haben Sie gehört, was sie gesagt hat?«
Charlotte nickte. »Ja, das habe ich. Jemand muss nach Chalk Hill fahren.«
»Sie hat wirr geredet!«
»Das mag sein, aber wir müssen der Sache nachgehen. So wie vorhin habe ich sie noch nie erlebt.«
»Ich kann meine Tochter jetzt nicht allein lassen. Und reisen darf sie unter gar keinen Umständen.«
»Dann fahre ich mit Mr. Ashdown«, sagte Charlotte mit fester Stimme.
Sir Andrew sah sie überrascht an.
»Ich bin mir sicher, dass es kein Traum und kein wirres Gerede war, Sir Andrew. In Ihrem Haus geht etwas Sonderbares vor, das wissen Sie ebenso gut wie ich. Und Emily leidet darunter. Wenn wir dem nicht endlich ein Ende bereiten, wird sie ernsthaft krank. Dann fürchte ich um ihren Verstand.«
Er sah aus, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr. Charlotte sprach schnell weiter, bevor er Einwände erheben konnte.
»Ich werde Mr. Ashdown bitten, mich zu begleiten. Geht heute Abend noch ein Zug nach Dorking?«
Er sah sie entgeistert an. »Sie wollen jetzt gleich fahren?«
»Ja. Mit Ihrer Erlaubnis, Sir.«
Und notfalls auch ohne , fügte sie in Gedanken hinzu.
34
November 1890, Westhumble
Im Zug konnte Charlotte endlich durchatmen. Die vergangene Stunde war wie ein Rausch aus Bildern und Eindrücken an ihr vorbeigezogen – der Streit zwischen Sir Andrew und Mr. Ashdown, Emilys Ausbruch, ihr spontaner Entschluss, sofort nach Chalk Hill zu fahren, die tiefe Sorge, die sich in ihr ausgebreitet hatte und die einfach nicht weichen wollte.
»Sie sind ganz blass. Möchten Sie einen Schluck?«
Mr. Ashdown hatte eine Taschenflasche aus dem Mantel geholt und hielt sie ihr hin. »Whisky.«
Charlotte überlegte nicht lange. Die Flüssigkeit rann warm durch ihre Kehle und hinterließ ein angenehmes Brennen, das sich bis in den Magen ausdehnte. Sie bemerkte seinen erstaunten Blick.
»Sie haben nicht einmal gehustet.«
»Warum sollte ich?«
»Ach, nur so.« Er nahm die Flasche entgegen und steckte sie wieder in die Manteltasche. »Besser?«
Sie nickte. »Ich … Ich versuche, mir darüber klar zu werden, was ich hier eigentlich tue.«
»Nun, Sie sitzen mit einem Gentleman im Zug, um herauszufinden, ob ein kleines Mädchen dabei ist, den Verstand zu verlieren. Und hoffen, dass dies nicht der Fall ist.«
Seine ebenso knappe wie zutreffende Analyse
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