Der verbotene Fluss
oder nicht?«
»Du solltest nie unter einzelnen Bäumen Schutz suchen. Der Blitz schlägt in die höchsten Punkte ein. Bei uns in Deutschland gibt es ein Sprichwort: Eiche weiche, Buche suche. Aber das ist Unsinn. Baum bleibt Baum. Am besten suchst du dir eine Vertiefung und machst dich so klein wie möglich. Oder du stellst dich unter eine Brücke.«
Inzwischen war es nachtdunkel geworden, das gelbe Licht hatte sich dunkelblau gefärbt. Ein Hagelschauer breitete binnen Minuten eine weiß schimmernde Decke über Park und Straße. Charlotte öffnete das Fenster einen Spaltbreit.
»Gib mir deine Hand.«
Sie schüttete die eisigen Kügelchen hinein.
Das Mädchen tippte sie vorsichtig mit der Fingerspitze an und hielt sie an die Wange. Dann steckte es sich rasch eins in den Mund. »Hm, schmeckt gut!«
Charlotte lächelte. Plötzlich fiel ihr ein, wie sie als Kind den Kopf in den Nacken gelegt und Schneeflocken mit der Zunge aufgefangen hatte.
Als der Hagelschauer vorüber war, eilten die ersten Dienstboten mit Schaufeln aus den Häusern und begannen, den Gehweg vor den Eingängen vom eisigen Matsch zu befreien.
»Da ist er!«, rief Emily aufgeregt und deutete auf die Straße.
Ein Mann in dunklem Mantel und Hut, einen langen Schal um den Hals gewickelt, strebte eilig aufs Haus zu. Wenig später hörten sie die Klingel, kurz darauf wurde die Wohnungstür geöffnet.
Beinahe hätte Charlotte, noch bevor es klopfte, »Herein« gerufen.
Sein Haar war feucht, sein Gesicht von der Kälte gerötet, und er schaute belustigt von ihr zu Emily.
»Nach dem unsagbar dämlichen Hamlet von gestern Abend bin ich entzückt, zwei klugen Damen zu begegnen. Es ist mir ein Vergnügen!«
»Ich hätte mich gar nicht erst auf diese Inszenierung einlassen sollen«, erklärte Mr. Ashdown, während er sich die Hände an der Teetasse wärmte. »Immerhin war ich vorgewarnt. Der Darsteller des Hamlet war grauenhaft, ein alternder Held in Strumpfhose, der den halben Text vergessen hatte. Der Geist seines Vaters musste ihm vorsagen. Ophelia zischte ›Geh in ein Kloster‹, und zwar so laut, dass man es bis auf die Stehplätze hören konnte. Natürlich hätte man dem armen Mann die Qual ersparen und den Text kürzen können, aber der Regisseur hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die kompletten fünf Stunden auf die Bühne zu brin gen.« Er schüttelte sich. »Nach dem dritten Akt bin ich geflohen.«
»Können wir das mal lesen, Fräulein Pauly?«, fragte Emily. »Es klingt spannend.«
»Dafür ist es vielleicht noch ein wenig zu früh«, sagte Charlotte vorsichtig, da sie sich fragte, ob die düstere Geschichte des Dänenprinzen als Lektüre für ein achtjähriges, empfindsames Mädchen geeignet war.
»Ach, ich erzähle dir einfach, worum es geht. Lesen kannst du es immer noch. Die Sprache ist schwer zu verstehen«, sagte Mr. Ashdown fröhlich und begann mit seiner Schilderung, die so fesselnd war, dass sich Charlotte mitreißen ließ, obwohl sie Handlung und Ausgang kannte.
Während sie so dasaßen, vergaß sie beinahe, weshalb sie Mr. Ashdown das Telegramm geschickt hatte. Sie musste unbedingt unter vier Augen mit ihm sprechen.
»Emily, würdest du uns bitte ein paar Minuten allein lassen?«
Das Mädchen schaute sie verwundert an. »Aber Mr. Ashdown wollte mir doch noch von dem König und seinen drei Töchtern –«
»Emily, das können wir später nachholen.« Charlottes Ton war freundlich, aber ungewohnt streng, und ihre Schülerin schien zu begreifen, dass es ihr ernst war. Sie stand auf, knickste und verließ das Wohnzimmer.
Mr. Ashdown sah sie mit unergründlicher Miene an. »Bei Ihnen möchte ich kein ungezogener Schüler sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich habe den Stahl in Ihrer Stimme gehört. Mit Ihnen ist nicht zu spaßen.«
Charlotte fragte sich, ob es als Kompliment gemeint war. »Sie ahnen nicht, was in manchen Schulzimmern vorgeht. Sie können Hölle und Fegefeuer werden, wenn man die Kinder nicht zu nehmen weiß. Was glauben Sie, welche Qualen Frauen schon ausgestanden haben, gefangen zwischen der Herrschaft, zu der sie nicht gehören, den Dienstboten, von denen sie gemieden werden, und den Kindern, die sie nicht mögen oder sogar verachten?« Ihre Stimme klang heftig.
Seine Überraschung war aufrichtig. »Verzeihung, mir war nicht bewusst, dass Sie solch schlechte Erfahrungen gemacht haben.«
»Ich spreche nicht von mir«, sagte sie rasch. »Meist hatte ich Glück mit meinen Schülern. Aber ich
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