Der verbotene Fluss
trinken gehen.«
»Du wirst wenigstens dafür bezahlt, dass du dir so etwas ansiehst«, bemerkte sein Freund Stephen Carlisle.
»Nicht ganz – ich muss auch noch darüber schreiben«, erwiderte Tom und strebte auf die Treppe zu, über die man zur Garderobe gelangte. Zum Glück herrschte im Saal eine derartige Begeisterung, dass niemand außer ihnen seinen Mantel holen wollte. Kurz darauf verließen die beiden Männer das Theater, nachdem die Garderobiere noch strahlend gefragt hatte, ob sie Miss Bellecourt in der Titelrolle der Weißen Blume von Soho auch so hinreißend gefunden hätten.
»Allein der Titel ist eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand«, verkündete Tom, als sie um die Ecke bogen und dem nächsten Pub zustrebten. Durch die Fenster fiel warmes gelbes Licht, das sich einladend auf dem nassen Pflaster spiegelte.
»Was soll ich darüber schreiben? ›Miss Bellecourt beeindruckte vor allem durch ihr wogendes Dekolleté, dem ich eine größere Ausdruckskraft zusprechen möchte als dem gesamten Rest ihrer Erscheinung?‹ Oder ›Mr. Hesters Ende erinnerte an den sterbenden Schwan, allerdings ohne dessen Anmut und untermalt von Lauten, die an die letzten Minuten eines Schweins im Schlachthof gemahnen?‹«
Stephen schlug ihm lachend auf die Schulter. »Hüte deine scharfe Zunge, wenn du es dir mit den Anhängern des Stücks nicht verscherzen willst. Was etwa auf die Hälfte der Londoner Bevölkerung zutreffen dürfte.«
Sie betraten den Pub und setzten sich in eine Nische, nachdem sie an der Theke zwei Pint-Gläser geordert hatten. Es war nicht das vornehmste Etablissement, aber Tom kam gern hierher, weil man sich in Ruhe unterhalten konnte und nicht von anderen Theaterbesuchern belästigt wurde, die sich mit einem Kritiker über das soeben gesehene Stück unterhalten wollten. Er trank einen großen Schluck, stellte das Glas ab und breitete hilflos die Arme aus.
»Steve, das ist ja das Schlimme. Es gibt viel zu viele Leute, denen dieser Schund gefällt. Da kann man seinen Verstand gleich an der Garderobe abgeben.«
»Über Geschmack lässt sich nicht streiten.«
Tom lachte boshaft. »Das sagst du . Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass es Dinge gibt, die objektiv gut und schön und bewahrenswert sind. Und andere, für die all das nicht gilt.«
Stephen Carlisle macht eine abwiegelnde Handbewegung. »Die Leute im Theater hatten ihren Spaß und konnten den unerfreulichen Alltag für ein paar Stunden vergessen. Ist das nichts? Ich habe Patienten, die schon kuriert wären, wenn sie sich zur Abwechslung mal mit den großen Dramen im Leben dieser Figuren beschäftigten, statt dauernd ihre eigenen im Kopf zu bewegen.«
»Ein interessanter Gedanke«, erwiderte Tom ironisch. »Am besten verschreibst du ihnen ein Melodrama pro Woche oder eine musikalische Komödie pro Monat. Dann wirst du ein berühmter Mann.«
Stephen grinste. »Danke für den Ratschlag. Aber auch du kannst von solchen Aufführungen profitieren. Ich weiß, dass deine besten Kritiken lesenswerter und literarischer sind als so mancher Roman. Aber deine Verrisse mag ich am liebsten – wegen des Unterhaltungswertes.«
»Dann wirst du morgen in der Abendausgabe auf deine Kosten kommen.«
»Vergiss nicht das hochbegabte Dekolleté!«
»Und den sterbenden Schwan.«
»Was macht eigentlich dein Shakespeare-Buch?«, fragte Stephen unvermittelt, worauf Tom ihn prüfend ansah.
»Warum kommst du gerade jetzt damit?«
»Nun, ich habe mich gefragt, was du in den letzten Monaten so treibst. Du scheinst oft unterwegs zu sein. Das hat mich gefreut.«
»Ja, ich war tatsächlich viel unterwegs. Aber nicht, weil ich für mein Buch recherchiert hätte.« Tom zögerte. »Kennst du die Society for Psychical Research?«
»Hab davon gehört. Und?«
»Ich arbeite seit einer ganzen Weile für sie.«
Sein Freund sah ihn verwundert an. »Du bist unter die Geisterjäger gegangen? Ich wusste gar nicht, dass du dich für das Übersinnliche interessierst.« Dann fiel ein Schatten auf sein Gesicht. »Tom, ich will dir nicht zu nahe treten, aber –«
Tom hob abwehrend die Hand. »Damit hat es nichts zu tun. Ich nehme an wissenschaftlichen Untersuchungen teil und schreibe darüber. Die Kollegen sagen, mein Stil sei klarer und verständlicher als der ihre. Natürlich sind sie mir fachlich weit überlegen. Ich bringe ihre Ergebnisse einfach nur in eine verständliche Form.«
Sein Freund sah ihn prüfend an. »Und du kannst Persönliches und
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