Der verbotene Fluss
»Darf ich fragen, wie Sie das gemacht haben? Die Überprüfung der Trance, meine ich.«
»Nun, zunächst haben wir Mrs. Piper angesprochen, an der Schulter gerüttelt, ihr ins Gesicht gepustet. Dann«, er warf Tom einen Blick zu, als wollte er dessen Reaktion abwarten, »sind wir zu etwas energischeren Methoden übergegangen. Wir haben sie mit Nadeln gestochen, ihren Arm mit einem brennenden Streichholz berührt und ihr Ammoniumcarbonat unter die Nase gehalten.«
Tom zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ist das die übliche Vorgehensweise? Sie erscheint mir, wie soll ich sagen, recht unsanft.«
»Oder unwissenschaftlich, meinen Sie?«, fragte Lodge belustigt. »Manchmal muss man zu solchen Methoden greifen. Mrs. Piper ist nicht irgendein Medium, das mit billigen Tricks arbeitet.«
»Kein Charles Belvoir?«
»Eben nicht«, warf Myers ein. »Unser hochgeschätzter amerikanischer Kollege William James hat sie als die eine weiße Krähe bezeichnet, die beweist, dass nicht alle Krähen schwarz sind. Das ist ein großes Wort. Niemand konnte ihr bislang Tricks oder Täuschungen nachweisen. Sie arbeitet nicht mit Kabinetten, Vorhängen oder anderen Requisiten, wie sie bei vielen Medien beliebt sind. Unser guter Kollege Hodgson hat sie bei fünfzig Sitzungen in ihrer Heimat beobachtet und sogar von Privatdetektiven beschatten lassen, ohne etwas Verdächtiges festzustellen. Er war beeindruckt, zumal sie kein Geld für ihre Sitzungen nimmt und nicht nach Ruhm strebt. Das ist mehr, als man von den meisten Medien behaupten kann.«
Myers nickte zustimmend. »In der Tat. Jedenfalls konnten Oliver und ich sie durch nichts aus ihrer Trance reißen. Andererseits ist dies noch kein Beweis für ihre Fähigkeiten.«
»Sie kommuniziert meist durch einen gewissen Phinuit, bei dem es sich angeblich um einen französischen Arzt handelt«, erklärte Lodge. »Wir haben bei unseren Nachforschungen allerdings keine reale Person gefunden, auf die diese Beschreibung zutrifft.«
»Wir vermuten, er könnte eine Art zweite Persönlichkeit sein«, warf Myers ein und blickte zur Tür. »Ich glaube, ich höre die Damen. Noch Fragen, die vorher beantwortet werden müssen, Ashdown?«
»Nein. Manchmal ist es besser, solche Dinge einfach auf sich wirken zu lassen.«
Wie aufs Stichwort klopfte es erneut, und Mrs. Lodge öffnete die Tür. Hinter ihr trat eine unscheinbare Frau ins Zimmer, die Tom auf Anfang dreißig schätzte und die dezent und konservativ gekleidet war. Sie ähnelte in nichts den sensationsheischenden Medien, die um jeden Preis auffallen wollten und meist nicht mehr als ihr schrilles Äußeres zu bieten hatten. Dies hier war eine Hausfrau und Mutter aus Boston, eine Frau aus einfachen, respektablen Verhältnissen. Sollte er heute Abend tatsächlich einen Menschen erleben, dessen Kräfte weit über das normale Maß hinausgingen, dem es möglich war, bis hinüber ins Jenseits zu reichen, wo immer das auch sein mochte?
Die Stimme klang rau und polternd, gar nicht wie die einer zierlichen Frau. »Das gehört einem von Ihren Onkeln.« Sie drehte die goldene Uhr, die Lodge ihr gegeben hatte, in Händen. »Der Besitzer dieser Uhr hat einen anderen Onkel sehr geliebt. Der andere hieß Robert. Und Robert gehört diese Uhr jetzt.«
Tom schrieb mit, schaute aber immer wieder auf und vermochte kaum die Augen von der Frau zu wenden. Was hatte Lodge bezweckt, als er ihr die goldene Uhr in die Hand drückte?
Wieder und wieder strich sie über das Metall, als läse sie etwas aus seiner gravierten Oberfläche. Plötzlich wurde ihre Stimme weicher. »Das ist meine Uhr, und Robert ist mein Bruder, und ich bin hier. Onkel Jerry, meine Uhr.«
Tom bemerkte, wie Lodge Fred Myers einen aufgeregten Blick zuwarf. Dann sagte er: »Onkel Jerry, erzähle mir doch etwas, das nur du und Robert wisst. Ein Geheimnis, das niemand außer euch beiden kennt.«
Atemlos schaute Tom zu Mrs. Piper, die immer noch die Uhr in Händen drehte, von der Rückseite zur Vorderseite, in einem endlosen, golden schimmernden Fluss.
»Ach, da war doch etwas. Als Kinder sind wir gern im Bach geschwommen. War ganz schön gefährlich. Einmal sind wir fast ertrunken. Und da gab es eine Katze, wir haben sie auf dem Feld von Smith getötet. Ja, als Kind hatte ich ein Gewehr. Und einen Schatz – eine lange, sonderbare Haut, wie von einer Schlange …«
Zwei Wochen waren seit der Sitzung mit Mrs. Piper vergangen, in denen Tom mehrere Theaterkritiken geschrieben, die
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