Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
Vom Netzwerk:
stützte die Hände auf die Lehne eines Polsterstuhls. Dann sah er sie so durchdringend an, dass sie schlucken musste. Ihre Kehle war trocken.
    »Darauf läuft es immer wieder hinaus, nicht wahr?«, sagte er und konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Was immer geschieht, es beginnt und endet mit ihrer Mutter.«
    Charlotte schaute ihn verwundert an. Etwas an seinem Ton ließ sie aufhorchen. Zum ersten Mal schwang etwas anderes als Trauer darin mit, er klang beinahe feindselig. Einbildung, warnte ihre Vernunft. Auch Hilflosigkeit konnte sich auf diese Weise äußern.
    »Ich grüble seit Tagen nur darüber nach, was Emily quält. Seit vorhin kann ich nicht mehr glauben, dass sie wirklich nur träumt. Es ist mehr. Entweder ein seelisches Leiden oder etwas, das unser – wie soll ich sagen – Begriffsvermögen übersteigt.«
    Er ballte die Hände zu Fäusten und senkte den Kopf. Seine Stimme war so leise, dass sie angestrengt horchen musste.
    »Ich werde Ihnen etwas sagen, das ich eigentlich noch für mich behalten wollte. Als ich vor drei Tagen in London war, habe ich einen befreundeten Arzt aufgesucht und ihm Emilys Fall geschildert. Er war ähnlich ratlos wie wir. Beim Abschied gab er mir das hier.« Er zog einen Zettel aus der Westentasche und warf ihn auf den Tisch. Charlotte trat näher und las.
    Dr. Henry Sidgwick
    Society for Psychical Research
    9, Buckingham Street
    Adelphi, London W.C.
    Sie blickte hoch. Sir Andrew hielt den Kopf noch immer gesenkt.
    »Wer ist das? Und um welche Art Gesellschaft handelt es sich?«
    »Um einen Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, übernatürliche Phänomene zu untersuchen.«
    »Übernatürliche Phänomene?«, wiederholte sie zögernd. »Aber warum …?«
    Er schaute hoch, und sie sah die Qual in seinen Augen. »Weil Emily den elfenbeinfarbenen Spitzenschal erwähnt hat, der ihrer Mutter gehörte. Wir fanden ihn am Ufer des Mole. Und sie sprach von einem Brief, den ihre Mutter ihr hinterlassen habe.«
    Charlotte sah ihn atemlos an.
    »Von beidem habe ich ihr nie erzählt. Sie wissen genau, dass alle im Haus angewiesen sind, strengstes Stillschweigen über den Tod meiner Frau und alles, was damit verbunden ist, zu wahren. Woher soll Emily es also gewusst haben?«
    Wenn nicht von ihrer Mutter selbst?, vollendete Charlotte in Gedanken seinen Satz. Sie überlegte fieberhaft. Glaubte er wirklich, Emily habe Kontakt zu Geistern? Dass sie ihre verstorbene Mutter sah oder zumindest deren Gegenwart spürte? Auf einmal fiel Charlotte ihr erster Abend in England ein, an dem sie Mrs. Ingram bei der Séance überrascht hatte. Sie erinnerte sich daran, was sie durch den Spalt gesehen hatte: das Wohnzimmer mit den flackernden Kerzen, die beiden Frauen, das umgedrehte Glas auf dem Tisch, die seltsamen Beschwörungen. Würde man Emily solch zweifelhaften Prozeduren unterwerfen, die sie womöglich nur noch mehr verwirrten?
    »Sie sagen ja gar nichts mehr«, bemerkte Sir Andrew beinahe herausfordernd. »Was halten Sie von alldem?«
    »Ich … Ich kann es mir nicht erklären«, erwiderte Charlotte hilflos. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Wie war es bei Emilys früheren Krankheiten? Hat sie damals auch Dinge gesehen, die nicht da waren?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Es gehörte nicht zu meinen Aufgaben, meine Tochter zu pflegen, wenn sie krank war.«
    Da war er wieder, der unpersönliche, beinahe kalte Ton, den sie schon so oft bei ihm erlebt hatte. Die Hitze schoss wie eine Flamme in ihr empor. Zorn, nichts weniger als das. Charlotte presste die Zähne aufeinander, um nichts zu sagen, was sie später bereuen würde.
    »Ich dachte, Ihre Frau hätte vielleicht mit Ihnen darüber gesprochen. Sie hat Emily doch gepflegt, wie ich hörte.«
    Das nachfolgende Schweigen lastete schwer auf ihnen.
    »Wahnvorstellungen oder Ähnliches hat sie nie erwähnt«, sagte er schließlich, und die Worte schienen ihn Mühe zu kosten. »Ich weise Sie noch einmal darauf hin, dass ich nicht gewillt bin, mit Ihnen über meine verstorbene Frau zu sprechen.« Er zögerte. » Ver zeihen Sie meine Schroffheit, aber diese Angelegenheit belastet mich. Ich bin es gewöhnt, Probleme mit dem Verstand zu lösen.«
    »Anscheinend gibt es Dinge, bei denen das nicht möglich ist. Sonst hätten Sie nicht das da mitgebracht.« Charlotte wies auf den Zettel, der noch immer zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Wie schreibt doch Ihr großer Dichter: ›Es gibt mehr

Weitere Kostenlose Bücher