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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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Ding’ im Himmel und auf Erden …‹«
    »Ja, und in seinem Stück kommt ein Geist vor, nicht wahr?«
    Charlotte schluckte den Köder nicht. »Wenn Sie gestatten, kümmere ich mich jetzt wieder um Emily. Es ist nicht an mir zu entscheiden, ob Sie diesen Herrn zurate ziehen. Ich wünsche mir nur, dass Emily nicht noch mehr verletzt wird.«
    Als er nichts entgegnete, drehte sie sich um und verließ gemessenen Schrittes den Raum. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich gegen die Wand und schloss die Augen.

19
    Am Nachmittag ließ sie Emily in Noras Obhut und gab ihr eine Zeichenaufgabe, die sie nicht zu sehr anstrengen und dennoch sinnvoll beschäftigen würde. Dann teilte sie Mrs. Evans mit, sie werde einen längeren Spaziergang unternehmen. Sir Andrew hatte sie seit der Unterredung nicht mehr zu Gesicht bekommen; er war nach Reigate gefahren, um mit Parteifreunden zu Mittag zu essen.
    Charlotte hatte das Gefühl, nicht eine Sekunde länger im Haus bleiben zu können. Die Ereignisse der letzten Tage hatten sie aufgewühlt, und ihr war, als könnte sie nur in Ruhe darüber nachdenken, wenn sie sich ein Stück von Chalk Hill entfernte. Sie schlug den Weg in Richtung London Road ein und schritt energisch aus. Sie hatte ein festes Ziel, das sie gern zu Fuß erreichen wollte.
    Es war kühl, aber trocken, und sie hatte sich warm angezogen, damit die Kälte sie nicht in ihren Gedanken störte. An diesem Tag hatte sie keinen Blick für die Landschaft um sie herum.
    Sie sah wieder den Zettel mit der Adresse vor sich, den Sir Andrew ihr gezeigt hatte. Übernatürliche Phänomene? Wollte er damit andeuten, dass Emily Gespenster sah? Charlotte konnte es nicht glauben. Andererseits erschien ihr das Erlebnis am Tag ihrer Ankunft in Dover inzwischen wie ein Omen. Wenn schon eine einfache Frau wie Mrs. Ingram in ihrem Haus eine Séance abhielt, war es in England vielleicht gesellschaftsfähig, sich mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen. Zudem musste sich Charlotte eingestehen, dass sie mit ihren rationalen Erklärungen in eine Sackgasse geraten war.
    Von Beginn an hatte ein Schatten auf dem Haus in der Crabtree Lane gelegen. Mittlerweile wusste sie, dass es mehr war als die gewöhnliche Trauer um einen verstorbenen Menschen, dass Dinge geschehen waren und noch immer geschahen, die sie mit ihrem Verstand nicht erklären konnte.
    Warum hatte sich Lady Ellen das Leben genommen? Was steckte hinter dem offenen Fenster in der Nacht und den Besuchen, die Emily angeblich empfing? Was hatte sie selbst in jener Nacht auf der Treppe vor ihrer Zimmertür gehört? Und glaubte Sir Andrew, der nüchterne Politiker, tatsächlich an unerklärliche Vorfälle, die aus einer Verbindung ins Jenseits erwuchsen?
    Die Vorstellung von Geistern erschien Charlotte so absurd, dass sie am liebsten gelacht hätte, doch das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Es ging um das Wohl eines Kindes, das ihr am Herzen lag. Was immer Sir Andrew auch unternehmen würde und so sonderbar seine Bemühungen auch sein mochten, Charlotte würde sich nicht davon beirren lassen. Sie würde in Chalk Hill an Emilys Seite bleiben und herausfinden, was in diesem Haus geschehen war.
    Sie blieb stehen, um die London Road zu überqueren, nahm die Brücke über den Mole und wandte sich nach links in Richtung Mickleham. Sie hatte sich den Weg eingeprägt, als Wilkins sie zum Pfarrhaus fuhr; die kleine Ansiedlung war nicht schwer zu finden.
    Charlotte spürte allmählich die Anspannung in den Waden. Schon lange war sie nicht mehr in diesem Tempo gewandert, die Gelegenheit bot sich nicht, solange Emily an ihrer Seite war. Nun aber, mit einem Ziel vor Augen, achtete sie nicht auf das Ziehen in den Beinen, sondern genoss den frischen Wind, der an ihrem Hut zupfte und ihren Rock flattern ließ. Er zerzauste auch die Baumkronen und riss ihnen die letzten Blätter ab, die wie ein brauner Regen auf Charlotte niedergingen. Bald würde sie ihren ersten englischen Winter erleben. Gewiss wurde er nicht so kalt und schneereich wie die Winter in Berlin. Es war die einzige Jahreszeit, in der sie die Stadt nicht gemocht hatte; Berlin war nur schön, wenn seine graue Pracht und das schwarze Elend von Sommerfarben abgemildert wurden. Die kahlen Bäume und Sträucher ließen den Tiergarten trostlos erscheinen und die Linden auf dem Boulevard wie übergroße Reisigbesen.
    Sie würde ihrer Mutter schreiben, nahm sie sich vor, und den Schwestern. Auf einmal überkam sie ein

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