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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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ein wenig unterschätzt«, antwortete er lächelnd.
    »Das tun die meisten«, erwiderte sein Gastgeber, der nun auch in den Flur getreten war. »Die Universität hat sich immer dagegen gewehrt, den Bahnhof mitten in die Stadt zu verlegen, eine Haltung, die ich übrigens nicht teile.«
    »Man wollte sogar verhindern, dass Studenten die Züge benutzen«, fügte seine Frau hinzu.
    »Vielleicht befürchtete man, sie könnten nach London fahren und den Vergnügungen der Großstadt erliegen«, mutmaßte Tom.
    »Als Oxford-Absolvent kennen Sie sich mit Vergnügungen bestens aus, nehme ich an«, sagte Sidgwick mit gutmütigem Spott.
    »Ich muss wohl nicht daran erinnern, wer in diesem Jahr das Bootsrennen gewonnen hat«, konterte Tom.
    »Touché.«
    Eleanor schaute die beiden mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Lasst uns hineingehen – die Köchin wartet mit dem Essen.«
    Das Speisezimmer war klein, aber behaglich eingerichtet, und im Kamin brannte ein Feuer, das eine wohlige Wärme verströmte. Der quadratische Tisch war nicht ausgezogen, bot aber genügend Platz für drei Personen.
    Eleanor Sidgwick trug das Essen selbst auf und warf ihrem Gast einen entschuldigenden Blick zu. »Das Mädchen hat Ausgang. Ich hoffe, Sie verzeihen, wenn ich diese Aufgabe übernehme.«
    Eine Mathematik-Dozentin, die ihre Gäste persönlich bei Tisch bewirtet, dachte Tom. Allein das lohnte die Fahrt nach Cambridge.
    »Was schauen Sie so, Tom?«, fragte sie lachend, wurde aber ein wenig rot. »Blamieren wir uns gerade vor einem weltgewandten Londoner?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, es gefällt mir, dass eine intellektuelle Frau wie Sie dennoch weiß, wie man eine Suppenterrine anfasst.«
    Ihr Mann strich sich über den langen Bart und schaute sie mit unverhohlener Zärtlichkeit an. »Meine Eleanor ist eine ganz und gar außergewöhnliche Frau, Tom.«
    Plötzlich wurde es still im Raum, und Tom spürte erneut das tiefe Verständnis, das zwischen den beiden herrschte. Es war eine ungewöhnliche Ehe. Es hieß, erst Sidgwick habe seine Frau zum Feminismus bekehrt; das Frauen-College, an dem sie unterrichtete, hatte er selbst gegründet. Was immer die beiden verbinden mochte, es waren gute und starke Gefühle.
    »Das habe ich bereits bei unserer ersten Begegnung gemerkt«, sagte er charmant.
    Sie begannen, ihre Suppe zu löffeln, und plauderten ungezwungen über Neuigkeiten aus London.
    »Was macht das Theaterleben?«, fragte Eleanor neugierig. »Das vermisse ich, wenn wir hier sind. Nichts kann sich mit dem kulturellen Angebot der Hauptstadt messen.«
    »Da haben Sie recht, aber es ist auch viel darunter, das nichts taugt.«
    Sidgwick sah ihn belustigt an. »Das ist uns nicht entgangen, mein lieber Tom. Ihre Rezensionen verschönern uns die einsamen Abende hier in der Provinz.«
    Tom trank einen Schluck Wein. »Provinz? Nichts wirkt so anregend auf den Geist wie ein Besuch in Cambridge – oder Oxford. Leider neige ich dazu, mir stets die unwirtlichsten Jahreszeiten für meine Ausflüge auszusuchen. Den Blick von Boar’s Hill habe ich zuletzt im Schnee genossen, am vermutlich kältesten Tag des Jahres 1889.«
    Eleanor lachte. »Nun, das wundert mich. Ich dachte, die Leute würden im Sommer aus London fliehen, weil es nichts Gutes im Theater gibt und die Gerüche … Nun ja …« Sie verzog angewidert das Gesicht.
    »Der Große Gestank liegt ja zum Glück schon einige Jahrzehnte zurück, aber die Kanalisation lässt nach wie vor zu wünschen übrig«, gestand Tom. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich die letzten Sommer in der Stadt überstanden habe. Im nächsten Jahr werde ich verreisen, das habe ich mir fest vorgenommen.«
    »Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen«, sagte Sidgwick und breitete die Arme aus. »Unser Gästezimmer steht Ihnen zur Verfügung.«
    Tom tupfte sich den Mund ab und legte die Serviette neben den Suppenteller. »Das ist überaus verlockend. Bootsfahren auf dem Cam, Picknick auf den Wiesen mit Blick zum King’s College …«
    So ging es noch für eine Weile hin und her. Doch ein Thema hatten sie noch nicht angesprochen – den Auftrag, für den Henry Sidgwick ihn herbestellt hatte. Vielleicht hob er sich solche Themen für den Brandy nach dem Essen auf.
    »Sie fragen sich vermutlich, was es mit dem Auftrag auf sich hat, von dem ich Ihnen geschrieben habe.«
    »Gehört Gedankenlesen auch zu Ihren Forschungsgebieten?«, konterte Tom.
    Sidgwick schüttelte den Kopf. »Ich brauchte Sie nur

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