Der verbotene Kuss
Situation hätte sie den Viscount nicht reizen dürfen.
Schwer seufzend machte sie die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah erleichtert, dass die Bediensteten bereits im Kamin Feuer gemacht, die samtene, auf dem Himmelbett liegende Überdecke zurückgeschlagen und genügend Kerzen angezündet hatten. Tief in ihren düsteren Gedanken versunken, schloss sie die Tür, schlenderte zur Spiegelkommode und warf im Vorbeigehen das Buch auf das Bett. Dann nahm sie den Schal ab, machte eine Schublade auf und legte ihn hinein. Sie nahm den von Mrs. Box eingepackten Morgenmantel heraus, legte rasch ihre Sachen ab und zog den hübschen Morgenmantel über das Unterhemd. Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst. Sie schüttelte die Haare aus und achtete nicht darauf, wohin die Haarklammern fielen.
Dann ging sie zum Frisiertisch und betrachtete sich in dem darüber hängenden ovalen Spiegel. Einen Moment lang sah sie nur eine leicht bekleidete junge Frau mit rotgeränderten Augen, deren Miene verloren wirkte.
Eine Bewegung, die sie im Spiegel wahrnahm, ließ ihr den Atem stocken. Hinter ihr lehnte ein Mann bei der Tür an der Wand. Der Viscount! Großer Gott! Er war hergekommen, um sich zu rächen.
Seine muskulösen Arme waren über der Brust verschränkt, und sein eindringlicher Blick war so bannend, dass Felicity sich einen Moment lang nicht regen, nicht einmal mit den Wimpern zucken konnte. „Machen Sie weiter.“ Unverfroren nahm Lord St. Clair ihren Anblick in sich auf. „Lassen Sie sich von mir nicht abhalten.“
Diese Äußerungen rissen sie aus der Trance. Sie wirbelte zu ihm herum und hielt die Ränder des Morgenmantels fest vor der Brust zusammen. „Wie können Sie es wagen! Wie lange sind Sie schon hier?“
„Ich habe auf Sie gewartet, seit ich aus dem Spielsalon gegangen bin. Gideon und Jordan glauben, ich sei in Blackmores Haus zurückgekehrt. Aber ich konnte nicht fort, ohne mit Ihnen geredet zu haben.“
„Nicht hier! Nicht unter diesen Umständen! Gehen Sie nach unten, und ich komme zu Ihnen.“
„Zu mir?“ Ian lachte. Es klang hohl und unheilvoll. „Glauben Sie, dass ich mich darauf verlasse, Sie würden zu mir kommen? Ehe ich bei der Treppe wäre, würden Sie schon nach Sara schreien, damit sie mich aus dem Haus werfen lässt.“
„Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass ich jetzt nicht schreien werde?“
„Das werden Sie nicht, solange Sie so angezogen sind.“ Der lüsterne Blick des Viscounts erschütterte Felicity, doch in ihre Angst mischte sich ein Gefühl der Wärme, das vom Kopf über ihre Brüste zu ihrem Unterleib rieselte. Verflucht sollte Lord St. Clair sein, weil er ihr dieses Gefühl vermittelte.
„Außerdem würde Sara, wenn Sie schrie, hier hereinstürmen und eine Erklärung verlangen. Sie hätten verdammt große Schwierigkeiten, sie dann von Ihrer Schuldlosigkeit zu überzeugen, mehr als beim letzten Mal.“
Das war ein ausgezeichnetes Argument. Aber Felicity hatte nicht damit gerechnet, dass der elende Kerl ihr in ihrem Zimmer auflauem würde.
Wut verdrängte ihre Furcht. Sie warf den Kopf in den Nacken und betrachtete Seine Lordschaft, um herauszufinden, welche Absichten er haben mochte. Da einige Handbreit hinter ihm Kerzen in einem Wandleuchter brannten, wurde er auf sehr wunderliche Weise beleuchtet. Sein Gesicht und seine Figur lagen halb im Schatten, und das flackernde Kerzenlicht ließ ihn noch größer erscheinen. Felicity musste sein Gesicht jedoch nicht genau sehen, um zu erkennen, in welcher Stimmung er war. Seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte seine Stimme den Gefühlsaufruhr erkennen lassen, in dem er sich befand.
Und die Tatsache, dass er in ihr Zimmer gedrungen war, bewies hinlänglich, dass sie ihn viel zu oft gereizt hatte.
Kein Mann betrat nachts unaufgefordert das Schlafzimmer einer Frau, und ganz gewiss sah kein Gentleman schweigend zu, wie eine Dame sich entkleidete, es sei denn, er hatte Absichten, die alles andere als ehrbar waren. Felicity hatte mit einem Racheakt gerechnet, aber doch nicht damit! Du lieber Himmel, damit wirklich nicht!
Ihr sank das Herz. Vorsichtig, damit der Viscount nichts merkte, tastete sie hinter sich auf dem Tisch nach einer Waffe, fand jedoch nichts, das sich dazu geeignet hätte. Sie spürte lediglich eine Haarbürste, einen Kamm und einige Bändchen unter den Fingern. Sie war schutzlos, es sei denn, sie hatte vor, den Viscount zu Tode zu kämmen.
Aber irgendwie würde sie sich seiner erwehren. Erneut schaute
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