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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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keinen Finger gerührt. »Kommissar Adamsberg lässt das Ungeheuer laufen.« Er sah die Titelseite der Zeitungen schon vor sich. Auch in Österreich. Irgendeine Schlagzeile, die mit »Kommissar Adamsberg« anfing, in Großbuchstaben, von denen Blut tropfte wie von den Rippen auf dem T-Shirt des Zerquetschers. Dann käme der Prozess, das Geheul der Menge, das Seil, das man an einen Baum knüpft. Der Zerquetscher erscheint, seine Zähne sind rot, er streckt den Arm aus und grölt mit der Menge: »Der Sohn zermalmt den Vater!« Die Buchstaben der Zeitungsseite zerlaufen zu einem Nebel aus schwarzen und grünen Flecken.
     
    Birnenschnaps floss ihm durch die Zähne, sein Kopf taumelte von einer Seite auf die andere. Er öffnete die Augen, erkannte das Gesicht Josselins, der sich über ihn beugte.
    »Sie sind ohnmächtig geworden. Ist Ihnen das schon öfter passiert?«
    »Das erste Mal in meinem Leben.«
    »Warum wollten Sie mich sprechen? Wegen Vaudel?«
    »Nein, ich fühlte mich nicht wohl. Der Gedanke kam mir, als ich aus dem Haus ging.«
    »Sie fühlten sich nicht wohl, aber wie genau?«
    »Herzschmerzen, und ich fühlte mich benommen, kaputt.«
    »Ist Ihnen das schon öfter passiert?«, wiederholte Josselin, während er Adamsberg half aufzustehen.
    »Nie. Doch, ein Mal, in Québec. Aber da war es nicht dasselbe Gefühl, und außerdem hatte ich gesoffen wie ein Loch.«
    »Legen Sie sich mal da drauf«, sagte der Arzt und tippte auf den Untersuchungstisch. »Legen Sie sich auf den Rücken, ziehen Sie nur Ihre Schuhe aus. Es kann eine beginnende Grippe sein, aber ich will Sie trotzdem untersuchen.«
    Als Adamsberg sich auf den Weg hierher gemacht hatte, hatte er sich nicht vorgestellt, dass er sich auf einer moltonbezogenen Liege ausstrecken und dem Arzt gestatten würde, seine mächtigen Finger auf seinen Schädel zu legen. Seine Füße hatten ihn von der Brigade weggetragen und zu Josselin hingelenkt. Er hatte nur vor, ein wenig zu reden. Diese Ohnmacht war eine ernste Warnung. Nie würde er irgendeinem Menschen sagen, dass Zerketch behauptete, sein Sohn zu sein. Nie würde er sagen, dass er ihn, ohne einen Finger zu rühren, hatte gehen lassen. Frei wie ein Vogel. Auf zu einem neuen Massaker, sein prahlerisches Lächeln auf den Lippen, sein Totengewand auf dem Leib. Zerk, das sprach sich noch leichter als Zerketch und beschrieb geradezu lautmalerisch die Ablehnung, den Ekel. Zerk, der Sohn von Matt oder von Loulou, der Sohn eines Pissers. Und doch hatte seinerzeit niemand die Krämersfrau bedauert.
    Der Arzt hatte seine Hand auf sein Gesicht gelegt, zwei Finger drückten leicht auf seine Schläfen. Die riesige Hand überdeckte mühelos die Spanne zwischen beiden Ohren. Die andere legte sich wie eine Schale um seinen Hinterkopf. Im Schatten dieser leicht parfümierten Hand schlossen sich Adamsbergs Augen.
    »Keine Sorge, ich horche nur auf den PRM an der SSB.«
    »So«, sagte Adamsberg mit fragendem Unterton in der Stimme.
    »Den primären respiratorischen Mechanismus am Spheno-Basilar-Gelenk. Reine Basiskontrolle.«
    Die Finger des Arztes wanderten weiter, verweilten wie neugierige Schmetterlinge auf den Nasenflügeln, den Kieferknochen, streiften die Stirn, bohrten sich in die Ohren.
    »Gut«, sagte er nach fünf Minuten, »wir haben da eine traumatisch bedingte Fibrillation, die mir Ihre tieferen Schichten verbirgt. Ein Vorkommnis in allerjüngster Zeit hat Todesangst ausgelöst, die wiederum eine allgemeine Überreizung des Systems zur Folge hatte. Ich weiß nicht, was Sie erlebt haben, aber es muss nicht sehr angenehm gewesen sein. Starker psychoemotionaler Schock, der schlagartig das vordere Scheitelbein fixiert, das Sphenoid in Einatmung blockiert und dazu geführt hat, dass die Sicherungen durchgebrannt sind. Großer Stress, da ist es normal, dass Sie sich nicht wohl fühlen. Das ist die Ursache Ihrer Ohnmacht. Wir werden uns zunächst mal diese Blockaden vornehmen, bevor wir weitersehen.«
    Er kritzelte ein paar Zeilen und bat Adamsberg, sich auf den Bauch zu drehen. Er zog ihm das Hemd hoch und legte einen Finger auf das Kreuzbein.
    »Sie sagten doch, es sitzt im Kopf.«
    »Den Schädel kriegt man über das Sacrum.«
    Adamsberg schwieg, er ließ die Finger des Arztes seine Wirbel entlang aufwärts wandern wie freundliche kleine Kobolde, die über sein Skelett trippelten. Die Augen ließ er weit offen, um nicht einzuschlafen.
    »Bleiben Sie wach, Kommissar, und drehen Sie sich jetzt wieder auf den Rücken.

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