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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Ich werde die Pleura lockern müssen, die vollkommen fest ist. Haben Sie Schmerzen hier rechts zwischen den Rippen?«
    »Ja.«
    »Sehr gut«, meinte Josselin, legte seine Finger wie eine Gabel unter seinen Nacken, und mit der flachen anderen Hand begann er ihm die Rippen zu bügeln wie ein zerknittertes Wäschestück.
     
    Adamsberg erwachte träge, er hatte das unangenehme Gefühl, dass viel Zeit vergangen war. Schon nach elf, wie er an der Wanduhr sah, Josselin hatte ihn schlafen lassen. Er sprang vom Untersuchungstisch herunter, zog seine Schuhe an, fand den Doktor schon am Küchentisch sitzend.
    »Setzen Sie sich, ich esse zeitig, in einer halben Stunde habe ich einen Patienten.«
    Er holte Teller und Besteck heraus, schob den Teller zu ihm hin.
    »Haben Sie mich eingeschläfert?«
    »Nein, das haben Sie ganz allein gemacht. Und in Anbetracht Ihres Zustands war es nach der Behandlung auch das Beste. Es ist alles wieder in Ordnung«, fügte er hinzu wie ein Klempner, der seine Rechnung kommentiert. »Sie waren wie in einem tiefen Schacht, totale Handlungsblockade, kein Schritt nach vorn mehr möglich. Aber es wird wieder werden. Sollten Sie sich heute Nachmittag etwas benommen fühlen, morgen leichte Anfälle von Melancholie haben oder einen Muskelkater, so ist das normal. In drei Tagen sind Sie wieder ganz der Alte, ja, es wird Ihnen besser gehen. En passant habe ich auch noch den Tinnitus behandelt, vielleicht genügt schon diese eine Sitzung. Aber man muss auch essen«, sagte er und deutete auf den Gemüseeintopf.
    Adamsberg gehorchte, er fühlte sich ein wenig betäubt, aber doch wohl dabei, leicht und hungrig. Nicht zu vergleichen mit dem Ekel vom Morgen und den Bleigewichten, die er an den Beinen hinter sich hergezogen hatte. Er hob den Kopf und sah, wie der Arzt ihm vergnügt zuzwinkerte.
    »Darüber hinaus«, sagte er, »habe ich gesehen, was ich sehen wollte. Die natürliche Struktur.«
    »Und?«, fragte Adamsberg, der sich vor Josselin mit einem Mal sehr klein fühlte.
    »Es ist ungefähr das, was ich gehofft hatte. Ich habe bisher nur einen einzigen anderen Fall wie den Ihren erlebt, bei einer alten Dame.«
    »Nämlich?«
    »Das fast vollständige Fehlen von Angst. Eine seltene Veranlagung. Im Gegenzug ist freilich auch die Gefühlsintensität reduziert, das Begehren von Dingen ist mäßig, es liegt ein Hang zum Fatalismus vor, hin und wieder die Versuchung, sich allem durch Flucht zu entziehen, dazu Schwierigkeiten mit dem Umfeld, stumme Räume. Man kann nicht alles haben. Und, was noch interessanter ist, der Übergang zwischen den Regionen des Bewusstseins und des Unterbewusstseins ist fließend. Man könnte meinen, dass die Schleusenkammer nicht dicht ist, dass Sie es manchmal versäumen, die Tore richtig zu schließen. Denken Sie dennoch daran, Kommissar. Zwar liefert einem das mitunter geniale Ideen, die von woanders herzukommen scheinen – von der Intuition, wie man fälschlicherweise sagt, um zu vereinfachen –, sowie gewaltige Vorräte an Erinnerungen und Bildern, aber es können dabei ebenso gut toxische Gegenstände an die Oberfläche steigen, die um jeden Preis in der Tiefe bleiben sollten. Können Sie mir folgen?«
    »Oh ja, ganz gut. Und wenn diese toxischen Gegenstände nach oben steigen, was passiert dann?«
    Josselin mimte mit dem Finger ein sich drehendes Rädchen an seinem Kopf.
    »Dann unterscheiden Sie nicht mehr zwischen Richtig und Falsch, zwischen Trugbild und Wirklichkeit, Möglichem und Unmöglichem, kurzum, sie mischen Salpeter, Schwefel und Kohle.«
    »Das heißt, es knallt«, schloss Adamsberg.
    »Genau«, sagte der Arzt und trocknete sich befriedigt die Hände. »Aber Sie haben nichts zu befürchten, solange Sie die Reling nicht loslassen. Geben Sie Verantwortungen nicht ab, reden Sie weiter mit ihren Mitmenschen, isolieren Sie sich nicht allzu sehr. Haben Sie Kinder?«
    »Eins, aber es ist noch ganz klein.«
    »Nun, dann erklären Sie ihm die Welt, gehen Sie mit ihm spazieren, schaffen Sie sich Bindungen. Das beschwert Sie mit einigen Ankern, man sollte immer ein paar Lichter im Hafen zurücklassen. Was die Frauen angeht, frage ich gar nicht erst nach, ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Mangelndes Vertrauen.«
    »In die Frauen?«
    »In Sie. Das ist meine einzige kleine Sorge, wenn man es überhaupt so nennen kann. Ich verlasse Sie jetzt, Kommissar, schlagen Sie die Tür gut hinter sich zu.«
    Welche? Das Schleusentor oder die Wohnungstür?

26
     
    Der Kommissar

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