Der verbotene Schlüssel
entstanden. Sie ließen mich unvergleichlich mehr sehen und hören, in allen Ländern der Welt, im Gestern, Heute und Morgen – deshalb habe ich sie Zeitfenster genannt …«
»Du meinst, du konntest damit in die Zukunft blicken?«, wunderte sich Meister Hans.
»Und in die Vergangenheit. Einmal sah ich sogar mich selbst in Germanien, wie römische Soldaten mich als kleinen Jungen von meinen Eltern fortgeschleppt haben. Ein anderes Zeitfenster zeigte mir eine riesige Explosion, die eine ganze Stadt auslöschte – die Rauchwolke stieg wie ein monströser Pilz dem Himmel entgegen. Schreckliche Bilder! Glücklicherweise quälten sie mich nie lange. Alles war im Fluss. Eines sah ich allerdings immer wieder: das Gesicht eines wunderschönen Mädchens mit blonden Haaren. Ich werde das Gefühl nicht los, sie könnte für mein Schicksal wichtig sein. Wie, wo und wann, kann ich nicht sagen.«
»Wer war sie?«, fragte Meister Hans.
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«
»Und dann haben wir dich gerufen?«, hakte Taqi nach.
»Nein. Ich blieb noch lange im Labyrinth der Zeit – so nenne ich mein Gefängnis wegen der merkwürdigen Fenster. Wiederholt beobachtete ich, wie Männer die Zeichnung der kosmischen Maschine entdeckten, sich darin vertieften und sie bald darauf verstört zurücklegten. Sie müssen geglaubt haben, der Konstruktionsplan sei verflucht. Einige der ›Zauberlehrlinge‹ waren überraschend vergreist, andere hatten mit ihrer Neugier eine Naturkatastrophe ausgelöst …«
»Ich habe nichts von alldem bemerkt«, sagte der Osmane.
»Das ist mir aufgefallen.«
»Du hast mich auch gesehen?«, staunte er.
Ich lächelte. »Ihr schient mir von allen Wissensdurstigen der Behutsamste und Gescheiteste zu sein. Das mag Euch vor dem Schicksal des jungen Studenten bewahrt haben, der sich hundert Jahre vor Euch an die Pläne heranwagte.«
»Wieso? Was war mit ihm?«
»Er besaß eine außergewöhnliche Auffassungsgabe. Ich hoffte, mein Meister und ich könnten endlich aus dem Labyrinth freikommen. Nach etwa zehn Jahren verfinsterte sich mitten am Tag die Sonne. Der Mann gab sich die Schuld daran. Sonderbarerweise war er überzeugt, die Konstruktionspläne höchstens den zwölften Teil einer Stunde lang studiert zu haben. Erschrocken rollte er sie zusammen und übergab sie dem Bibliothekar.«
Taqi nickte verstehend. »Ist die Zeit in der Außenwelt auch einmal rückwärts gelaufen?«
»Nein, das hätte mir auffallen müssen. Sie rückte stets weiter, selbst wenn für die Menschen ein ganzes Jahrzehnt verschwand.«
»Könnte dein Gefühl dich nicht trügen?«
»Sicher. Deshalb behielt ich die mechanischen Horologe im Auge, mit denen man irgendwann die Stunden zu messen begonnen hatte.«
»Bestimmt hast du uns ›Zauberlehrlinge‹ manchmal verflucht, weil wir dir Hoffnung gemacht und dich so oft enttäuscht haben.«
»Im Gegenteil. Für mich sind sie stets ein Lichtblick gewesen. Sobald ein Mensch mit freiem Willen an Mekanis arbeitete, löste sich meine Starre. Während dieser Phasen erkundete ich das Labyrinth der Zeit. Leider habe ich weder Poseidonios noch einen Ausgang gefunden. Zuletzt blieb ich immer im selben Irrgang.«
»Und dann habe ich dich gerufen?«, fragte diesmal Hans.
Ich nickte. »Ja. Ich hörte die Sphärenmusik, war einen Moment benommen und stand plötzlich neben Euch.«
Am Ende meines Berichts waren alle klüger. Die Uhren in der Werkstatt untermalten unser gedankenvolles Schweigen. Das Gehörte wollte erst einmal verdaut sein. Meister Hans lag meine Geschichte erkennbar schwer im Magen. Taqi al-Din hingegen wirkte auf mich wie berauscht – ich hatte seine kühnsten Theorien bestätigt. Der Osmane wandte sich dem Nürnberger zu.
»Glaubt Ihr jetzt, wir könnten zu dritt die Weltenmaschine bauen?«
»Nein«, antwortete der Gefragte. Mit einem Mal grinste er schelmisch. »Nicht zu dritt. Doch wenn dieser Bub uns hilft, sollte es möglich sein.«
»Bitte tut das nicht!«, flehte ich. »Das Buch der Zeit hat unzählige Menschenleben zerstört. In ihm steckt eine Macht, die niemand zu bändigen vermag. Geminos sagte, es sei verflucht, und Poseidonios hat es wohl in den Wahnsinn getrieben …«
»Hör auf zu fantasieren!«, fiel mir Meister Hans brüsk ins Wort. Ihm war anzusehen, wie unwohl er sich angesichts solch ketzerischer Ideen fühlte.
Ich starrte ihn fassungslos an. »Das ist keine Einbildung, Herr. Habt Ihr denn nicht die Sphärenmusik gehört?«
»Zugegeben
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