Der verbotene Schlüssel
Gesichtsausdruck, denn er drückte mir ein Vergrößerungsglas in die Hand und sagte: »Sie ist endlich fertig, Theo. Schau sie dir mal an.«
Stumm nahm ich die Lupe, um mir die materialisierte Konstruktionszeichnung meines alten Meisters anzusehen. Bei aller Abneigung gegen den Mechanismus konnte ich mich der von ihm ausgehenden Faszination nicht entziehen. Das Ei war mehr als ein Meisterstück, mehr als kunstvoll, mehr als genial, es war auf einschüchternde Weise wunderbar.
Immer tiefer drang mein Blick in das Gewirr aus Spiralen, Wellen, Lagern und Zahnrädern ein. Manche waren so winzig wie eine Laus. Und schließlich fand er das Herzstück: die sieben spiegelblanken, ineinandergelagerten, drehbaren Halbkugeln – für jeden Ton der diatonischen Tonleiter eine, wie Meister Taqi erklärt hatte.
»Ist da ein Fleck auf der äußeren Sphäre?«, fragte ich. »Sieht aus wie die Landkarte eines unbekannten Kontinents. Mit einem Edelstein in der Mitte.«
»Unmöglich!«, sagte Taqi und riss mir die Lupe aus der Hand. Er schüttelte fassungslos den Kopf und wiederholte: »Unmöglich. Sie war makellos.«
»Kann es sein, dass sich die Kraft der Weltenuhr schon entfaltet, Meister Taqi? Sehen wir vielleicht gerade in die Zukunft?«
»Oder in die Vergangenheit«, murmelte er nickend.
Meister Hans kratzte sich unter der Achsel und brummte: »Hoffentlich beeinträchtigt der Fleck nicht die Funktion.«
»Warum ziehen wir sie nicht auf? Dann wissen wir es«, schlug Giovanni vor. Der Spanier war ein einsilbiger Mann von zweiundsechzig Jahren, der aus seiner enormen Begabung nicht viel Aufhebens machte. Auch äußerlich wirkte der kleine, untersetzte Uhrmacher mit dem grauen Lockenkopf eher unscheinbar. Daraus mochte seine Vorliebe für kostspielige samtene Wämser und abenteuerlich gefärbte Strumpfhosen resultieren. Gegen den Vorwurf des »geckenhaften Hochmuts«, den ihm der ganz auf Schwarz fixierte Taqi einmal gemacht hatte, wehrte sich der fromme Mann indes entschieden. Die Kirche rechne Hoffart zu den Lastern, die eine Todsünde nach sich zögen; der Herrgott könne sie mit ewiger Verdammnis bestrafen, belehrte er den Muslimen. Für ihn, einen zutiefst gläubigen Katholiken, sei jede Dünkelei etwas Undenkbares.
»Ich finde, Meister Giovanni hat recht«, sprang Hans für den Spanier in die Bresche. Auf seinem Gesicht erschien ein Grinsen, das von einem Ohrläppchen zum anderen reichte. Mit großer Geste zog er aus der Außentasche seines Wamses ein gold glänzendes Schlüsselchen hervor. Es hatte einen rautenförmigen Griffring, umlaufende Bünde auf dem Schaft und einen filigranen, merkwürdig gezackten Bart. Behutsam schob er es in die dafür vorgesehene Öffnung am Uhr-Ei. Während er sich anschickte, es herumzudrehen, lächelte er mich an und sagte: »Es ist eine besondere Uhr, deshalb haben wir für sie auch einen besonderen Schlüssel gemacht.«
Für mich war es ein verbotener Schlüssel. Ein in Messing und Gold gebanntes Zauberwort zum Heraufbeschwören großen Unheils. Ich kniff die Augen zu. Jeden Moment rechnete ich mit einer der üblichen Katastrophen, einem Erdbeben, Wirbelsturm, einer Flutwelle …
»Halt!«, rief Taqi und riss die Hand hoch.
Hans hielt inne. »Stimmt etwas nicht?«
»Erinnert Euch bitte an die Mahnungen von Geminos.«
Der Franke runzelte die Stirn. »Im Gegensatz zu Euch kenne ich seine Schriften nicht auswendig. Was meint Ihr?«
Giovanni verdrehte die Augen. »Unser muselmanischer Zunftbruder spricht von der Warnung auf dem Diskusvon Ys . Wer aus dem Wissen schöpft, das im Buch der Zeit bewahrt wird, muss unschuldig sein wie ein Kind.«
Taqis Blick bohrte sich in den meinen. »Das trifft dann sicher auch auf unser kosmisches Horolog zu. Gwenole von Phaistos hoffte, sein Geheimnis werde eines Tages von einem Freund der Götter gefunden, dessen Edelmut stärker sei als die Gier nach Macht. Du heißt Theophilos, Junge. Kennst du die Bedeutung deines Namens?«
»Freund Gottes«, antwortete ich.
»Das ist richtig. Und wie steht es mit deinem germanischen, den dir dein Vater gab?«
»Godwin? Das bedeutet …« Ich riss die Augen auf. »Freund der Götter.«
Er nickte gewichtig. »Genau wie in der Weissagung des Erleuchteten.«
»Man könnte glauben, die Vorsehung habe den Knaben für diesen Moment auserwählt«, murmelte Giovanni mit glasigem Blick. Er wandte sich mir zu. »Ausnahmsweise muss ich dem Muselmanen recht geben. Nicht wir, sondern du solltest den Schlüssel
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