Der verbotene Schlüssel
die Schilderungen.
Als wir im Meer versanken, erinnerte ich mich, hatte es mein Meister irgendwie geschafft, uns in eine sonderbare Welt zu versetzen. Wir fanden uns in einer Art Labyrinth aus spiegelndem Metall wieder. Boden, Decken und Wände waren ständig in Bewegung. Manchmal sah ich durch Fenster weit unter mir eine Landschaft mit einer fremdartigen Flora und Fauna. Trotz der Entfernung wirkte alles künstlich, ohne richtiges Leben. Die Tiere bewegten sich so hölzern wie Puppen an Fäden.
»Ich habe einen mechanischen Kosmos erschaffen!«, hatte Poseidonios jubiliert. »Die Weltenmaschine funktioniert. Sie muss lediglich gebaut werden.«
Zu dieser Zeit hatte ich keine Ahnung, wo wir uns befanden. Vielleicht waren wir ja im Meer ohnmächtig geworden, jemand hatte uns gerettet und, warum auch immer, in dieses unstete Labyrinth gebracht. Da ich noch lebte, konnte ich mich ganz der Sorge um den Geisteszustand meines Meisters widmen. »Geht es Euch gut?«
»Mir ist es nie besser gegangen. Ich bin der König von Mekanis und rede gerade mit meinem ersten Untertanen«, antwortete Poseidonios. Er klang völlig überdreht.
Bis plötzlich seine Stimme tiefer und seine Bewegungen träger wurden.
Mein eigener Körper schien ebenfalls zu versteinern. Die Wände des Labyrinths verschoben sich immer langsamer.
Und dann stand die Welt still.
Von diesem Augenblick an kam ich mir vor wie eine Mücke im Bernstein. Nur lebendiger. Mein Gefängnis versetzte mich in einen Zustand völliger Erstarrung. Trotzdem konnte ich meine Umgebung weiter beobachten.
»Mekanis braucht wohl etwas Stoffliches«, erklärte ich den beiden gebannt zuhörenden Uhrmachern. »So eine Art Anker, ohne den es nicht zu existieren vermag. Bis dahin hatte es sich an meinen Meister geklammert. Nun war Poseidonios in seiner eigenen Schöpfung eingeschlossen.«
»Eine spirituelle Maschine«, hauchte Taqi. Seine schwarzen Augen glänzten vor Verzückung.
»Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Anscheinend kann tote Materie sie nicht am Laufen halten. Dazu bedarf es einer lebendigenPerson, die in ihrem Handeln frei ist. Bei dem Versuch, uns vor dem Ertrinken zu retten, hat Poseidonios sich irgendwie in sich selbst gefangen. Es ist ein Henne-und-Ei-Problem. Ihr versteht, was ich meine?«
Taqi nickte. »Die mechanische Welt hielt inne, weil er erstarrt ist, und er konnte sich nicht mehr rühren, weil Mekanis stehen blieb. Klingt nach einem klassischen Paradox.« Dieses Rätsel bereitete dem Gelehrten offenkundig Freude.
»Wie war das nun mit dem Anker?«, fragte Meister Hans. Ihn sprach vor allem die praktische Seite der Geschichte an.
Ich deutete mit dem Löffel zum Arbeitstisch, wo das schriftliche Vermächtnis von Geminos und Poseidonios lag. Malmend antwortete ich, mir sei bald aufgegangen, dass ich Teil der Konstruktionszeichnung geworden war. Vergrößert wie durch einen Wassertropfen, sah ich Geminos über den Schriften brüten. Obwohl ich meinen Meister seit dem Erstarren seiner Welt nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, dürfte es ihm ähnlich ergangen sein wie mir. Ich meinte, seine Nähe zu spüren. Vermutlich hatte es ihn in einen anderen Winkel des Kerkers verschlagen.
Irgendwann verschwand Geminos. Es folgten die Schatten der Alexandrinischen Bibliothek, helle Flammen, und mit einem Mal kam ein römischer Zenturio, der sich mit dem Diskus und den Plänen davonstahl. Mit den Aufzeichnungen wusste er nichts anzufangen. Er hielt sie für wertlos und warf sie achtlos fort. Sie wurden wiedergefunden, wanderten von Hand zu Hand, bis jemand sie schließlich in einer anderen Bibliothek in Kairo wegsperrte. Erneut umfing mich Dunkelheit, viele, viele Jahre lang.
Ich schob die Schüssel mit dem Holzlöffel von mir weg. Die Erinnerung an das endlose Harren im Finstern schlug mir auf den Magen. Oder lag es an der fünften Portion Gemüsesuppe?
»Und wie ging es weiter?«, fragte Meister Hans ungeduldig.
Ich hob die Schultern. »Eines Tages öffnete ein junger Ägypter die Rolle mit der Zeichnung. Er vergreiste binnen weniger Augenblicke. Keine Ahnung, was die Ursache dafür war. Vermutlich lässt der kosmische Mechanismus die Zeit mal schneller und mal langsamer ablaufen. Erst nachdem der entsetzte Mann die Pergamente wieder in ihr Fach zurückgelegt hatte, ist mir etwas bewusst geworden: Auch meine Umgebung hatte sich verändert. Während ich, zur Reglosigkeit verdammt, nach wie vor in dem Labyrinth festsaß, waren um mich herum neue Fenster
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