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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wie Metall, sie sind auch genauso kalt. Ihre Farbe erinnerte mich eher an Grünspan als an eine saftige Wiese. Leicht strich ich mit der Hand über die Enden der Halme hinweg und vernahm ein leises Klicken. Ich ging mit dem Gesicht noch tiefer und fand meine bizarre Vermutung bestätigt. Sie bestanden aus metallischen, filigranen Gliedern, die allerdings so fein gearbeitet waren, dass wohl nicht einmal Meister Hans sie hätte erschaffen können. Plötzlich geschah etwas höchst Seltsames.
    Die Farbe des Grases veränderte sich. Der zuvor bläulich changierende, irgendwie kränkliche Ton verwandelte sich in ein frisches, saftiges Grün. Unwillkürlich streckte ich abermals die Hand nach den Halmen aus und ließ einige zwischen meinen Fingern hindurchgleiten. Sie waren jetzt warm.
    Lebendig!
    Trotzdem bestanden sie immer noch aus filigranen Kettengliedern.
    Ich wandte mich dem Baum zu, um nun ihn genauer zu untersuchen. Er war aus Bronze. Und tatsächlich! Auch er war ein mechanisches Gewächs, zusammengesetzt aus sauber verschraubten und verzapften Teilen. Selbst die zarten Blätter waren künstlich. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und strich mit den Fingerspitzen über einige hinweg.
    Sofort veränderten sie sich, wurden tiefgrün und verströmten den aromatischen Geruch von Myrte.
    Von Neuem lenkte ein Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal kam es aus größerer Entfernung. Weil die Baumkrone mir die Sicht nach oben nahm, lief ich ein paar Schritte vom Stamm weg. Noch ehe ich unter dem Blätterdach hervorgekommen war, sah ich einen Vogelschwarm am Himmel. Die Tiere schossen pfeilgerade durch die Luft, so als würden sie an einem Lineal entlangfliegen. Ich trat ins höhere Gras hinaus und richtete meinen Blick steil empor. Eigentlich rechnete ich damit, weitere Sterne und einen strahlenden Vollmond zu entdecken – woher sonst kam diese helle Nacht? Das entpuppte sich als eine Fehleinschätzung.
    Ich bekam einen Mordsschreck.
    Das Himmelsfirmament zeigte keine Gestirne, sondern die Werkstatt von Meister Hans. Aus der Froschperspektive sah ich, angestrahlt von gelbem Kerzenlicht, die riesigen Gesichter der drei Uhrmacher. Sie ihrerseits blickten auf mich herab. Wahrscheinlich fragten sie sich, wo das Uhr-Ei abgeblieben war.
    Was ich bereits geahnt hatte, obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, ließ sich kaum länger leugnen. Ich war zurückgekehrt. Ich befand mich wieder in Mekanis.
    Die jahrhundertelange Starre im Labyrinth der Zeit war mir nach wie vor lebhaft in Erinnerung. Ich schauderte. Es wäre grauenvoll, wenn ich abermals in diesen Zustand verfiele, dieses Gefühl, eine vertrocknete Mumie zu sein, die bei vollem Bewusstsein ist. Noch spürte ich die Steifheit in den Gliedern nicht, mit der sich der nahende Stillstand von Mekanis gewöhnlich ankündigte. Das beruhigte mich wenig. Mein bewegungsunfähiger Körper war in den letzten tausendsechshundert Jahren ja mehrfach kurz belebt worden, um bald danach erneut zu versteinern. Mir war kalt. Ich wollte in die Außenwelt zurück, ins Reich von Menschen, Tieren und Pflanzen. Ins richtige Leben .
    Unbehaglich beobachtete ich Meister Taqi, der mir jetzt durch eine Lupe entgegenblickte. Es schien, als suche er im Räderwerk des Welteneies nach dem Vermissten. Die anderen beiden Uhrmacher waren von der Himmelskuppel verschwunden. Ich fühlte mich von ihnen im Stich gelassen. Plötzlich hörte ich ein klimperndes Rascheln.
    Es kam von den metallenen Halmen. Mit Blicken suchte ich hektisch das wogende Gras ab. Fledermäuse waren keine unterwegs. Da strich irgendetwas Großes herum. Und es kam näher …
    Mit einem Mal teilten sich die Halme und ein Wolf trat heraus.
    Ich wich unwillkürlich vor dem grauen Jäger zurück. Wie anscheinend alles hier, war auch er ein Automat. In seinem Tiergesicht fehlten die Augen und die Schritte wirkten marionettenhaft. Trotzdem verspürte er wohl Appetit auf Menschenkinder. Oder war er nur neugierig? Jedenfalls näherte er sich mit vorgereckter Nase. Er schnüffelte …
    Nach meinem Geschmack rückte mir das mechanische Wesen zu dicht auf die Pelle. Ich bekam es mit der Angst zu tun, drehte mich um und lief zum Bronzebaum. Sicher ist sicher, dachte ich. Ein paar aufgeregte Herzschläge später hatte ich einen vermeintlich sicheren Ast erreicht. Er glich eher einem Speerschaft, so schmal war er. Das Metall trug mich mühelos. Ich setzte mich auf ihn, hielt mich mit den Händen fest, ließ die Beine baumeln und

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