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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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blickte nach unten.
    Da stand der Wolf und reckte die Schnauze nach oben. Sein Fell sah aus wie eine große Drahtbürste von der Art, die Meister Hans zum Entfernen von Rost benutzte. Das Gebiss war aus Eisen.
    »Ksch, ksch!«, machte ich.
    Das Biest reagierte nicht.
    Während ich es beklommen anstarrte, entging mir die Wandelung an dem dünnen Ast, auf dem ich saß. Er wurde lebendig und dadurch weniger tragfähig. Ehe ich den bedrohlichen Verlust an Stabilität bemerkte, brach der Bronzezweig entzwei.
    Und ich fiel nach unten. Auf dem Weg ins Gras streifte ich das mechanische Tier und blieb direkt vor dessen Nase liegen.
    Der graue Jäger knurrte. Seine eisernen Fänge näherten sich meinem Gesicht.
    Sie werden dich wie eine Vogelscheuche in der Luft zerfetzen, schoss es mir durch den Kopf. Schon meinte ich, sie im Fleisch zu spüren, die Sehnen zerschneiden, die Knochen zermalmen … Mein Herz raste. Mir brach der Schweiß aus. Ich kniff die Augen zu und streckte abwehrend die Hände aus. Mein letztes Stündlein hatte geschlagen, da biss die Maus keinen Faden ab.
    Erstaunlicherweise tat sich hierauf lange nichts.
    Ich fragte mich irgendwann, was ich davon halten sollte. Warum ließ sich der Wolf so viel Zeit damit, mir die Kehle zu zerreißen?
    Unvermittelt spürte ich an den Fingerspitzen meiner Rechten etwas Kaltes. Es war nicht die Kälte von Eisen, sondern die feuchte Kühle einer lebendigen Wolfsnase. Ich wagte einen vorsichtigen Blick auf den drahtigen Jäger.
    In dessen Gesicht hatte sich eine auffällige Änderung vollzogen. Die maschinenhafte Unpersönlichkeit war daraus verschwunden. Das lag daran, wie das Tier mich musterte. Ja, ich konnte es kaum glauben: Es sah mich aus großen goldgelben Augen neugierig an.
    »Wer bist du?«, knurrte der Wolf. Seine tiefe Stimme klang nicht direkt abweisend, sie herzlich zu nennen, wäre allerdings gewagt. »Wohlwollend übellaunig« traf es wohl am besten.
    »Theo«, murmelte ich verblüfft. »Du … sprichst? «
    »Was in Mekanis kreucht und fleucht, das redet auch, und ebenso, was Flügel oder Flossen hat.«
    »Sämtliche Lebewesen?«, fragte ich staunend.
    »Außer Kupferelstern und ein paar anderen Automatengeschöpfen schon. Lebewesen gibt es hier abgesehen von Oros allerdings keine. In seinem Weltenei ist alles mechanisch.«
    »Der kosmische Mechanismus wurde von Poseidonios entworfen«, stellte ich richtig. »Und Meister Hans hat ihn mit seinen beiden Zunftgenossen gebaut. Mit Meister Taqi und …«
    »Davon weiß ich nichts«, schnappte der Wolf. »Eines ist gleichwohl jedem Geschöpf von Mekanis bewusst: Wir sind ein Echo der Welt draußen. Du müsstest das wissen, wo du doch von dort kommst.«
    Ich entsann mich der Bilder aus der Menschenwelt, die mir das Labyrinth der Zeit gezeigt hatte. Waren sie der sichtbare Beweis für dieses sogenannte Echo? Zweifelnd schüttelte ich den Kopf. »Die Uhrmacher haben das Ei vor meinen Augen zusammengesetzt. Vor wenigen Minuten habe ich es zum ersten Mal aufgezogen.«
    »Das beweist gar nichts«, entgegnete der Wolf verdrießlich. »Mag sein, dass diese Männer einen Mechanismus gebaut haben, der die Harmonien des Kosmos irgendwie in das Echo verwandeln kann. Doch lass dir sagen, Menschenkind: Mekanis ist älter als ein paar Stunden. Viel älter! Fast so alt wie die Zeit selbst. Und bei meiner Rute, sie ist mindestens so mannigfaltig wie deine Welt.«
    Mein Blick wanderte über das drahtige Haarkleid des Wolfes. Zaghaft streckte ich die Hand danach aus, und als er weiter stillhielt, vergrub ich meine Finger darin. Was ich dabei spürte, überraschte mich. So spröde der Pelz aussah, so weich fühlte er sich an. »Diese Welt mag alt sein«, sagte ich. »Das Geschöpf, dem ich gerade das Fell kraule, ist es nicht. Du bist lebendig! «
    »Ja«, antwortete der Wolf ernst. »Und das verdanke ich dir. Nun muss ich aber los …« Er wollte sich der Steppe zuwenden.
    »Warte!«, hielt ich ihn zurück. »Sag mir bitte deinen Namen, grauer Jäger.«
    »Ich bin Lykos«, knurrte er. »Darf ich jetzt endlich gehen?«
    »Eine Frage noch: Kennst du einen alten Mann, der Poseidonios heißt? Er ist Philosoph, Forscher, Erfinder und ein Freund der schönen Künste.«
    »Nein. Hier gibt es keine Denker und Schöngeister, nur Macher. Geh zu Oros, dem König von Mekanis, wenn du deinen Gefährten finden willst.«
    Ohne ein Wort des Abschieds drehte der Wolf sich um und trottete auf das hohe Gras zu. Als er den Schatten des Bronzebaumes

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