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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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silbernen Hauptportal war ein Spruch eingraviert:
    Zeit ist Erinnerung
    Ich hatte das Land im Kreis während des Marsches längst wiedererkannt. Das Labyrinth musste hier an diesem Ort sein, wahrscheinlich nur ein paar hundert Schritte entfernt. Denn zweifellos war mein Blick in den vergangenen sechzehn Jahrhunderten immer wieder hinausgewandert über diese akkurat gepflügten Felder, die seltsamen Scharrbilder auf dem Boden, die Wälder, Seen und Berge. Meistens hatten mich diese kurzen Streifzüge meiner Augen verstört. Die Landschaft, die ich sah, war einerseits von bizarrer Schönheit und andererseits so kalt wie eine Eiswüste. Inzwischen kannte ich den Grund. Mekanis war eine mechanische Welt, ohne Leben, ohne jedes Gefühl.
    »Es sieht nicht nur so aus, nein, es ist eine Uhr«, stellte Taqi fest. Die Verzückung darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit zittriger Hand deutete er auf das Würfelelement, das sich am häufigsten bewegte. »Seht ihr den Quader da? Das ist meine Idee. Kennt ihr meine Taschenuhren? Mir ist es als erstem Erfinder auf Erden gelungen, einen Zeiger sage und schreibe fünf Mal in der Minute weiterspringen zu lassen. Habt ihr das gewusst?«
    Giovanni verdrehte die Augen. »Mein Anteil an der Weltenmaschine war auch nicht ganz unwesentlich.«
    Die Ehrenheischerei und das kleinliche Gehader der zwei gingen mir auf die Nerven. Sie hatten ja nicht jahrhundertelang ständig vor Wänden oder Decken fliehen müssen, die einen platt walzen wollten. »Wie soll man da drin arbeiten, wenn immerfort Räume oder Gänge zusammenschrumpfen und anderswo neue entstehen?« Meine Frage war an niemanden im Speziellen gerichtet.
    »Soweit ich mich erinnern kann, sind die Bewegungen sehr berechenbar und für den, der ihren Rhythmus verinnerlicht hat, auch völlig ungefährlich«, erwiderte Thaurin.
    »Verinnerlicht? Wahrscheinlich hat Oros euch das Taktmaß als siebten Sinn eingebaut. Ich jedenfalls wäre in dem verfluchten Haus ein paar Mal fast zerquetscht worden.«
    »Er meint den Irrgarten der Zeit «, sagte Nullus.
    »Irrgarten der …?« Ich wunderte mich, weil ich dem Labyrinth ziemlich genau den richtigen Namen gegeben hatte.
    Nullus fühlte sich in Unkenntnis meiner Gedanken zu einer Erklärung bemüßigt. »Wer in den Irrgängen nicht zerrieben oder zerdrückt wird, der verläuft sich unweigerlich in der Zeit. Oros hatte einmal die Sicherheit des Irrgartens erproben wollen. Dazu schickte er einen mechanischen Menschen hinein. Der passte nicht auf und verlor bald sein Haupt. So entstand der erste Ohnekopf.« Das Quietschen aus der Achsel klang mit einem Mal traurig, als Nullus hinzufügte: »Das bin ich gewesen.«
    »Nur interessehalber«, sagte Lykos. »Warum bist du nicht im Tal der Gebeine gelandet?«
    »Dem König hatte das neue Modell so gut gefallen, dass er seine Welt danach gleich mit etlichen von meiner Art bevölkerte.«
    »Sieht ihm ähnlich«, brummelte Arki. Er saß wie fest verwachsen im Nacken des Wolfes, so als seien die zwei eine Chimäre. Das ungleiche Paar war inzwischen gut aufeinander eingespielt.
    Mich beschäftigte etwas ganz anderes. »Wie kann man sich in der Zeit verlaufen?«
    »Wenn dir ein Tag wie ein Jahr vorkommt oder hundert Jahre wie ein einziges, dann hast du dich darin verirrt«, antwortete Nullus.
    »Die Weltenmaschine ist erst vor zehn Tagen fertig gestellt worden«, gab Giovanni zu bedenken.
    »Da ist sie aus dem Ei geschlüpft«, wiederholte Lykos, was er bereits mir erklärt hatte.
    »Sagen wir, aus dem Kokon«, präzisierte Thaurin. »Mekanis ist fast so alt wie die Menschheit und macht immer wieder Metamorphosen durch.«
    »Wie ein Seidenspinner, der sich von einer Raupe in einen Schmetterling verwandelt«, murmelte ich gedankenversunken. Die kurzen Unterbrechungen während meiner tausendsechshundertjährigen Starre kamen mir im Rückblick nur wie ein paar Tage vor. Vermutlich hatte der Irrgarten mein Zeitgefühl ebenfalls betäubt. Andersherum hatte ich manchmal auch das Gefühl gehabt, zehn mekanische Jahre seien auf Erden nicht länger als ein Tag … Ich schüttelte mich unwillig. Immer wenn ich darüber nachdachte, schwirrte mir der Kopf.
    »Worüber denkst du nach, Theo?«, fragte Arki.
    »Stimmt es, wie Lykos sagt, dass in diesem Würfelspiel alles aus der Zeit herausgesiebt wird, das Oros in ein schlechtes Licht stellt?«
    »So könnte man sagen. Er ist ein Meister der Verschleierung. Niemand weiß das besser als ich, sein ausgemustertes

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