Der verbotene Schlüssel
Gruber niemanden mehr in seine Werkstatt gelassen. Er schlief dort, aß dort, arbeitete manchmal dort, aber hauptsächlich wartete er. Zehn Tage lang. Dann erschienen wie aus dem Nichts Taqi, Giovanni und ein dritter Mann mit geschlossenen Augen – das Aussehen seines Gewandes erinnerte an einen griechischen Philosophen. Alle hielten sich bei den Händen. Meister Torriano war gestürzt. Seine rechte Hand glich einer Klaue, in der das Uhr-Ei lag. Die verkrampften Finger öffneten sich und das Weltenei polterte über den Dielenboden. Taqi rief: »Zeigt Oros sein Spiegelbild.«
Dieweil Meister Gruber herumfuhr und mit den Händen nach etwas an der Wand griff, öffnete der Fremde die Augen. Ein gleißendes Licht schoss aus ihnen hervor. Der Nürnberger drehte sich mit einer polierten Silberplatte wieder um und streckte sie Oros entgegen. Der König von Mekanis jaulte auf und entfloh in die Nacht.
Taqi und Giovanni setzten hiernach ihren Zunftgenossen darüber ins Bild, was sie in Mekanis erlebt und erfahren hatten. Man kam überein, die Weltenuhr nicht zu restaurieren. Hans wollte sie am liebsten ganz zerstören, doch Taqi erhob Einspruch. Damit würden sie Theo töten.
»Vielleicht ist das sein Schicksal«, sagte Hans.
»Aber womöglich liegt unser aller Schicksal auch in seinen Händen. Selbst wenn wir die Uhr demolieren, ist Oros nun trotzdem in unserer Welt. Besinnt Ihr Euch nicht mehr, was auf dem Diskus von Ys stand? »Bist du nicht unschuldig wie ein Kind, so lass ab von diesem Buch.« Wir waren so tolldreist, die Warnung in den Wind zu schlagen. Jetzt ist das Buch der Zeit zur Uhr geworden. Und weil niemand von uns sich wahrhaft unschuldig nennen kann, sollten wir sie weder instand setzen noch zerstören. Vielleicht müssen erneut 1600 Jahre vergehen, bis ein anderes Kind kommt, das Oros wieder in sein Reich verbannt und Theo rettet …« Hans stutzte mit einem Mal. Er horchte in die Werkstatt hinein.
»Habt Ihr etwas gehört?« Giovanni bekreuzigte sich.
»Im Gegenteil, ich höre nichts «, gab der Meister zurück.
»Dann ist doch alles in Ordnung. Und ich dachte schon, Oros fällt über uns her.«
»Nichts ist in Ordnung.« Hans machte eine raumgreifende Geste. »In der Werkstatt sind sämtliche Uhren stehen geblieben.«
Sophias Blick hob sich aus dem Buch. Sie lauschte.
Die Uhren in Nicos Wohnung tickten noch.
»Eine Hand wie eine Kralle?«, murmelte Theo. »Klingt für mich so, als habe Oros Meister Giovanni tatsächlich seinen Willen aufgezwungen.«
Laura strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Sag mal, Lotta, woher wusste dein Bruder eigentlich so viel darüber? Hat euer Opa Erik euch das alles als Gutenachtgeschichten erzählt?«
»Manches schon. Aber Ole hat es als seine Lebensaufgabe gesehen, Theo aus der Uhr zu befreien.«
»Nur Ole?«, fragte Nico schmunzelnd.
Lottas Blick sprang kurz zu Theo, ehe sie mürrisch antwortete: »Du weißt, warum ich dich überredet habe, den Mechanismus von Antikythera zu bauen. Also, warum fragst du mich?«
Sophia hatte den Text unterdessen schon weiter überflogen und sagte: »Ich glaube, hier finden wir die Antwort. Hört mal zu:
In derselben Nacht trennten sich die Wege der drei Uhrmacher.
Hans Gruber schickte das Uhr-Ei mit einem ausführlichen Bericht und eindringlichen Anweisungen einem befreundeten Uhrmacher, der im Dienste des russischen Zaren stand. So versank die Weltenmaschine für Jahrhunderte im Vergessen.
Taqi al-Din kehrte in die Heimat zurück und machte sich sofort an eine Überarbeitung seines Werks über ›Die hohen Methoden der spirituellen Maschinen‹. Er hat diese Ausgabe nie vollendet, denn im Jahr 1585 klopfte an seine Tür ein greiser Mann, der seine Augen hinter dunklen Gläsern verbarg. Als der Besucher ihn wieder verließ, hatte Taqis Herz aufgehört zu schlagen.
Im selbigen Jahr ereilte Giovanni Torriano das gleiche Schicksal. Nach seiner Rückkehr an den Hof Karls V. im spanischen San Jerómino de Yuste wurde er jedoch zunächst von Gewissensbissen geplagt. Als frommer Katholik fühlte er sich genötigt, seine Sünden zu beichten. Seltsamerweise gelangte hierauf die Kunde von der Uhr, in der die Welt verschwand, bis nach Rom. Dort hatte man sich schon gefragt, wie sich die Mondphase um ganze zehn Tage verschieben konnte. Die Beichte des Spaniers offenbarte des Rätsels Lösung.
Der Papst sah die Kirche und das Seelenheil seiner Schäfchen in Gefahr, sollte bekannt werden, dass Gottes Schöpfung dem Bösen scheinbar
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