Der verbotene Schlüssel
wehrlos ausgesetzt war. Um für die zehn verlorenen Tage eine glaubhafte Erklärung präsentieren zu können, beschloss er eine ohnehin überfällige Kalenderreform: Er ließ für das Jahr 1582 einfach auf den 4. den 15. Oktober folgen. Die Tage dazwischen fehlen seitdem.«
»Wir verdanken den gregorianischen Kalender also dem Herrscher der Zeit«, fügte Laura hinzu.
»Möglicherweise auch den Julianischen«, antwortete Theo ernst. »Aus dem Gespräch zwischen Geminos und Pompeius habe ich erfahren, dass es auch Iulius Caesar auf den Diskus von Ys abgesehen hatte. Außer dem Stundenwächter weiß wohl niemand genau, welche weiteren Verwicklungen sich daraus ergeben haben. In der Zeitwäscherei ist vieles verschwunden, das ihn und seine Machenschaften bloßstellen könnte.«
»Dann hat der Herrscher der Zeit in unserer Welt also deutliche Spuren hinterlassen. Sie werden nur nicht richtig gelesen«, resümierte der alte Uhrmacher.
Sophia erinnerte sich an die Muster in den Feldern von Mekanis und musste erneut an deren frappierende Ähnlichkeit mit den Kornkreisen und den Geoglyphen aus der Nazca-Wüste denken, den riesigen Scharrbildern, die nur aus dem Flugzeug zu erkennen waren. Ja, es gab einen Fingerabdruck des Stundenwächters in der Welt. Aber was hatte der Goldbär Arki von Oros gesagt? Er ist ein Meister der Verschleierung.
Nico ließ die Hand sinken. »Eins ist mir noch nicht klar. Hans Gruber hat, wie Ole schreibt, einen ausführlichen Bericht verfasst, der später in Russland Erik Kollin in die Hände gefallen sein dürfte. So weit, so gut. Aber woher wusste Ole, wie Torriano und Taqi gestorben sind?«
»Das habe ich gesehen«, sagte Theo bedrückt. »Im Labyrinth der Zeit. Nachher habe ich es Erik erzählt.«
Lotta sah Sophia an. »Hat Ole in dem Buch auch etwas über unseren Großvater geschrieben?«
Sie brauchte nicht lange im Merkwürdigsten Buch zu suchen. Die Schilderungen, nach denen ihre Großtante gefragt hatte, folgten dichtauf. Wieder schlüpfte Sophia in die Rolle der Vorleserin:
»1880, also fast dreihundert Jahre später, sollte der russische Goldschmied Carl Peter Fabergé für den Zaren ein überaus kostbares Geschenk anfertigen. Dazu, wurde ihm gesagt, dürfe er sich aus der Schatzkammer ein famoses Stück aussuchen, um es mit seiner Kunst zu veredeln.
Fabergé fand eine eiförmige Uhr, sehr alt, mit gesplitterten Kristallglaselementen, die nicht mehr funktionierte. Obwohl sie aus der Werkstatt des berühmten Nürnberger Uhrmachers Hans Gruber stammte, zweifelte der Zar, ob ›das Ührlein‹ seine Erwartungen von einem überaus kostbaren Geschenk erfüllen könne.
›Wenn Ihr es nicht zum Laufen bringt, dann werft es weg. Mit dem alten Plunder kann ich ohnehin nichts anfangen‹, sagte er zu Fabergé.
Die Form des Nürnberger Eies inspirierte den Juwelier dazu, eine kostbare Hülle zu entwerfen, ein Osterei, in das er den geheimnisvollen Mechanismus einbetten wollte. Mit der Reparatur der Uhr beauftragte er seinen ersten Goldschmied, den Finnen Erik Kollin. Meinen Großvater.
Wiewohl Erik den Bericht des Nürnberger Uhrmachermeisters atemlos las, hielt er ihn – auch weil der erwähnte Konstruktionsplan unauffindbar war – zunächst nur für ein Lügenmärchen, das Gruber um die Kalenderreform von 1582 herumgesponnen hatte. Dennoch blieb ein Rest von Unbehagen, während Erik sich an die Ingangsetzung des Uhrwerks machte. Dabei traten unerwartete Schwierigkeiten auf. Das filigrane Räderwerk war komplizierter als jedes Horolog, das er je gesehen hatte. Ein winziges mehrteiliges Organ fehlte sogar. Er musste es nach Gutdünken rekonstruieren. Tatsächlich haderte er bis zum Ende mit sich selbst, ob er den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt oder ihn in seiner Funktionsweise verändert hatte. Als er schließlich den Mechanismus mit dem Aufziehschlüssel in Gang setzte, ließ er große Vorsicht walten.
Und verschwand prompt in der Uhr.
Erik fand sich in Mekanis wieder. Weil ihm bei der Reparatur der Uhr jedoch ein Fehler unterlaufen war, stand die mechanische Welt still. Das heißt, nicht ganz. Nur jener Teil von Oros’ Schöpfung, der seelenlos war, verharrte in der Starre. Dies fand er heraus, als er Theo und seinen Gefährten begegnete. Erik wunderte sich über den sprechenden Goldbären Arki, den ehernen Wolf Lykos und vor allem über den Ehrfurcht gebietenden Dreifach Gehörnten Automanten Thaurin.
Mit einem Mal tauchte die Zehngliedrige Pandine Medusa auf, ein
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