Der verbotene Schlüssel
Der junge Adept hatte die Wahrheit gesprochen. Eine Woge von unvorstellbarer Größe rollte auf die Stadt zu. Sie war um ein Mehrfaches höher als Ker- Ys .
»Ich hätte den Schlüssel nicht aus der Hand geben sollen«, murmelte der König. Angesichts des drohenden Untergangs wirkte er überraschend gefasst.
»Ihr müsst Euch retten«, stieß Gwenole hervor.
Gradlon schüttelte traurig den Kopf. »Sollte Ys im Meer versinken, will auch ich nicht länger leben.«
»So dürft Ihr nicht reden, Majestät. Wer wird die Geschichte dieser prächtigen Stadt erzählen, wenn alle dahingerafft werden? Und wer könnte besser die Menschheit vor Oros warnen als der Mann, der ihn bezwungen hat?«
»Ich lasse meine Tochter nicht im Stich.«
»Für Dahut vermögt Ihr nichts mehr zu tun, Majestät. Aber für Euch und die Nachgeborenen. Nur Ihr besitzt ein Ross, das auf den Schaumkronen der Wellen galoppiert. Verliert keine Zeit. Besteigt Morvarc’h und flieht!«
»Warum nimmst du nicht das Pferd meiner Gemahlin? Ich schenke es dir.«
Gwenole deutete auf die goldene Scheibe an der Wand. »Weil ich noch etwas Wichtigeres zu tun habe. Sollten die Weisen von Ys mit der Stadt untergehen, wird dieser Diskus das einzige Zeugnis ihres geheimen Wissens sein. Verzeiht mir, o König, wenn ich dies sage, aber selbst Euch kann ich ihn nicht anvertrauen. Das Buch der Zeit darf niemandem in die Hände fallen, der nicht unschuldig ist wie ein Kind.«
»Du hast recht«, sagte Gradlon ohne Groll. »Ich habe in meinem Leben viel Blut vergossen. Viel zu viel!« Er kniete ein letztes Mal neben Dahut nieder und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Dann erhob er sich, drückte Gwenole die Hand und eilte zu den Ställen.
Während er Malgvens Pferd sattelte, brach die Welle über die Festung der Tiefe herein. Mit ungeheurer Wucht brandete sie durch Straßen und Gassen, riss ganze Häuser ein, verschlang Mensch und Tier wie ein fauchendes Ungeheuer. Nur die Zitadelle ragte noch aus der brodelnden Gischt hervor, als König Gradlon auf seinem Rappen mit den Schaumkronen der Flut nach Osten floh.
4
W ow!« Sophia ließ das Buch auf ihren Schoß herabsinken, lehnte den Kopf zurück, kämmte sich mit beiden Händen die blonden Haare aus dem Gesicht und schloss die Augen. Die Geschichte hatte was! Der verzweifelte König, die auf die dunkle Seite der Macht gezogene Prinzessin, der mutige Held Gwenole und nicht zu vergessen der Oberbösewicht Oros. Der Stundenwächter. Der Herrscher der Zeit. Daraus könnte man ein Theaterstück machen, eine Tragödie von klassischen Ausmaßen.
Sie blickte sich einmal mehr im Zimmer um. Was hatte all die Uhren im selben Augenblick angehalten? Um gegen das erneut aufkommende Unbehagen anzukämpfen, griff sie nach dem Pfefferminztee, der inzwischen fast kalt war. Sophia trank trotzdem einen Schluck und überflog die nächsten Seiten.
Da entrollte ihr Großvater ein Drama, das vom 16. Jahrhundert bis ins Jahr 54 vor Christus zurückreichte. Immer wieder sprang ihr der Name Theophilos oder Theo aus dem Text entgegen. Irgendwo in dieser merkwürdigsten Geschichte der Welt verberge sich die Lösung des Rätsels, klagte Ole Kollin an einer Stelle. Leider hätten er und seine Ahnen das Ränkespiel des Stundenwächters weder jemals ganz durchschaut noch einen Weg gefunden, die Welt der Menschen ein für alle Mal vor ihm zu retten.
Sophia musste einsehen, dass sie die verzwickten Intrigen und versteckten Hinweise mit flüchtigem Querlesen kaum würde durchschauen können. Daher kehrte sie ans Ende der keltischen Sage zurück und vertiefte sich erneut in die altertümliche Sprache ihres Großvaters.
Wie mir zugetragen wurde, hast du nach dem tragischen Tod deiner Eltern die Liebe zum Theaterspiel entdeckt. Bestimmt denkst du jetzt: Was für eine famose Geschichte! Aber ich warne dich, Sophia. Hinter dem Mythos von Ys verbirgt sich mehr als nur ein wahrer Kern. Es gibt den Stundenwächter wirklich. Oros hat Anno Domini 1582 die Menschenwelt betreten …
Ohne sich dessen bewusst zu sein, geriet Sophia abermals in den Bann des Buches. In besagtem Jahr des Herrn 1582, schrieb ihr Großvater, sei die Welt erstmals in dem Nürnberger Ei verschwunden. Damals seien der Menschheit ganze zehn Tage verloren gegangen. Papst Gregor XIII. sprach hiernach von Teufelswerk und ließ den Vorfall durch eine Kalenderreform vertuschen.
… Kaum jemand kennt die Wahrheit: Wir verdanken den gregorianischen Kalender der Weltenmaschine, die mein
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