Der verbotene Schlüssel
plötzlichen Herzstillstand. Nur der Nürnberger Meister, der das Uhr-Ei heimlich nach Russland brachte, ist dem Stundenwächter entkommen.
Woher weißt du das alles?, fragte Sophia im Stillen. Als könne das Buch ihre Gedanken lesen, fand sie schon auf der nächsten Seite die Antwort. Ein Abschnitt, in dem ein dick unterstrichenes Wort stand, sprang ihr förmlich entgegen. Sie meinte beinahe, die jammernde Stimme ihres Großvaters zu hören.
Hätte der Narr nur den vergoldeten … ach was, den verbotenen Schlüssel nicht herumgedreht, vor dem ich dich eingangs gewarnt habe! Er ist nämlich nicht weniger unheilvoll als der aus dem Mythos von Ys .
Mit der nicht sehr schmeichelhaften Titulierung »Narr« hatte der Verfasser Sophias Ururgroßvater gemeint. Der aus Finnland stammende Erik Kollin, las sie nun im Zusammenhang, habe die Weltenmaschine in Sankt Petersburg zu reparieren versucht. Beim Aufziehen sei es fast zur Katastrophe gekommen.
Besagter Narr habe sich plötzlich im Uhr-Reich Mekanis wiedergefunden. Darauf stülpten sich wie schon 1582 die Welten um: Die der Menschen wurde gleichsam ins Uhrengehäuse verbannt und das vermaledeite Räderwerk des Oros nahm ihren Platz auf Erden ein. Es verwandelte sich in einen Kosmos künstlichen Lebens, in dem sich vieles regte, nur kein einziges Gefühl.
Mit der Hilfe des im Ei eingeschlossenen Jungen habe Erik »zu unguter Letzt« aus dem Machtbereich des Stundenwächters entkommen können. Leider sei Theo dabei zurückgeblieben. Ein weiteres Mal. Danach habe Erik es für das Beste gehalten, die Uhr an einem sicheren Ort zu verwahren. Über seine Stippvisite in Mekanis redete er mit niemandem. Bis auf eine Ausnahme.
In angetrunkenem Zustand verplauderte er sich gegenüber einem Engländer, einem gewissen Herbert George Wells. Der Mann war Schriftsteller, und 1895 erschien sein Roman Die Zeitmaschine, der ein Welterfolg wurde . Angeblich sei Wells kurz nach dem Ersten Weltkrieg, so um 1920 herum, in die Sowjetunion gereist, um die echte Zeitmaschine – das Uhr-Ei – zu finden. Dies misslang, denn die Kollins hatten sie längst aus Russland herausgeschafft.
Auffälligerweise verbrachte H. G. Wells die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens als Mahner vor den »materiellen Gewalten«, welche die Menschen entfesselt hätten. Man dürfe die neue Situation nicht ignorieren, sondern müsse sich ihr anpassen, predigte er, sonst würde die Menschheit untergehen. Das in weinseliger Laune mit Erik Kollin geführte Gespräch hatte den Engländer wohl für den Rest seiner Tage geprägt. Ob Oros irgendwann bei dem Unheilspropheten angeklopft hatte, könne nur vermutet werden. Jedenfalls starb H. G. Wells 1946. Die Todesursache blieb ungeklärt. Seine Leiche wurde verbrannt und die Asche im Meer verstreut. So als habe jemand seine Spuren verwischen wollen …
»Vielleicht ist auch sein Herz einfach stehen geblieben«, las Sophia leise. Ohne den Kopf zu heben, ließ sie den Blick durchs Zimmer schweifen. »So wie die Uhren«, fügte sie hinzu. In ihrem Hals formte sich ein dicker Kloß. »Und wie die Herzen von Mama und Papa.« Sie wischte sich mit dem Ärmel ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Ihr seelisches Gleichgewicht geriet leicht ins Kippen, wenn sie über den Tod ihrer Eltern nachdachte. Konnte es sein, dass Oros auch sie …?
Sophia schüttelte ärgerlich den Kopf. Blödsinn! Jetzt fing sie doch tatsächlich an, diese merkwürdige Geschichte ernst zu nehmen. Das war nur die Ausgeburt einer verschrobenen Fantasie. Aber spannend!
Ihre Augen folgten wieder dem Text.
Seit er selbst in das Uhrwerk verbannt worden war, hatte mein Großvater nach einer Möglichkeit gesucht, Theo zu befreien, war er doch fest davon überzeugt, dass Oros über kurz oder lang seinen heimtückischen Plan verwirklichen würde. Nur Theophilos scheint zu wissen, wie man ihn besiegen kann. Weil Erik es jedoch nie mehr wagte, die Weltenuhr aufzuziehen, blieb es bei dem Wunsch. Auch sein Sohn, mein Vater Jesse, tüftelte erfolglos über dem Mechanismus. Mir und meiner Schwester ist es kaum besserergangen. Wir zwei kamen zu dem Schluss, dass es tatsächlich, wie es in einem Brief von Meister Gruber hieß, »der Unschuld eines Kindes bedarf, um das Uhrwerk erneut in Gang zu setzen und Theo zu befreien«. Ich kann dir nicht dazu raten, liebe Sophia, denn ich weiß nicht, ob dieser Weg der richtige ist. Oros scheint es zu spüren, wenn die Weltenuhr läuft. Die alten Überlieferungen lassen
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