Der verbotene Schlüssel
Großvater Erik für den berühmten russischen Goldschmied Carl Peter Fabergé in ein kostbares Ei einbaute …
»Jetzt reicht’s aber!«, keuchte Sophia. Das Schreibbuch fiel in ihren Schoß. So sah sie wenigstens das Uhr-Ei darunter nicht. Spüren konnte sie es immer noch. Es kam ihr vor, als glühe es zwischen ihren Schenkeln. Mit der Rechten griff sie unter die Kladde, nahm das Nürnberger Ei und legte es in die von Fabergé entworfene nachtblaue Hülle zurück.
Von wegen merkwürdigstes Buch! »Das verworrenste Buch der Welt« wäre sicher der passendere Titel. Sie war inzwischen reichlich verwirrt. Was hatte eine goldene Scheibe im alten Atlantis mit einer Uhr aus dem 16. Jahrhundert zu tun? Und dann das Geschreibsel von dem Stundenwächter, der angeblich seit vier Jahrhunderten wie bloody old Dracula irgendwo in der Menschenwelt herumspukte. Total abgedreht! Sollte sie überhaupt weiterlesen?
Andererseits – womöglich entwickelte sich das Stück ja zur Steilvorlage für einen Broadway-Gruselschocker. Titel des Kassenmagneten: Oros Horror Picture Show …
Sophias Neugierde erstickte das Unbehagen und zog ihren Blick bleischwer nach unten. Sie wollte wissen, wie es weiterging.
Im Jahr 1582, berichtete Ole Kollin im Folgenden, sei außerdem ein Halbwüchsiger namens Theophilos im Reich Mekanis verschollen, dem mechanischen Kosmos in der Uhr. Eine richtige Welt im Miniaturformat befinde sich darin. Weil der komplizierte Uhrenmechanismus dazumal Schaden genommen habe und noch immer nicht richtig repariert worden sei, schlafe Theo in Mekanis wohl wie Dornröschen in ihrem Schloss – nur dass es eben ein Junge und kein Mädchen sei …
Sophia hielt erneut inne. Wenn das keine fabelhafte Geschichte war! Ihre Neigung zu fantasievollen Tagträumen hielt sie, als zukünftige Theaterschaffende, für eine durchaus vorteilhafte Eigenschaft. Ein Uhr-Ei, das eine ganze Welt in sich barg – das war jetzt sehr fantastisch, aber gerade deshalb gefiel ihr die Idee.
Sie schloss die Augen und malte sich im Geiste aus, wie sie einen schlafenden Prinzen namens Theophilos aus seinem Schloss-Ei befreite, indem sie ihn wach küsste. Endlich mal ein Märchen, das die klassischen Geschlechterrollen auf den Kopf stellte! Ob sie es schaffte, das Buch ihres Großvaters zu dramatisieren und im Internat auf die Bühne zu bringen? Dazu müsste sie natürlich ein paar Hintergrundinformationen sammeln, damit das Ganze nicht völlig an den Haaren herbeigezogen wirkte. Vielleicht sollte sie sich später in ein Starbucks Café setzen, sich ins Internet einklinken und gleich mit den Recherchen beginnen. Sie nickte. Gute Idee! Mal sehen, was Opa Ole noch so über diesen verwunschenen Prinzen Theophilos schrieb. Ihr Zeigefinger suchte die Stelle, wo sie unterbrochen hatte. Im nächsten Moment überlief sie eine Gänsehaut.
Der verschollene Junge, hieß es da, sei der Leidtragende gewesen, als sich der König von Mekanis 1582 in die Menschenwelt abgesetzt habe. Theo erstarrte gleichsam zu einer Salzsäule und blieb in Mekanis zurück. Seit mehr als vierhundert Jahren suche Oros nun schon nach dem Uhr-Ei. Dass dieses notdürftig repariert und in einem anderen, von Fabergé entworfenen Ei versteckt worden sei, könne er bestenfalls ahnen …
Sophia stockte der Atem, als sie die folgenden Worte las. Sie klangen wie ein Unheil verkündendes Orakel:
Sollte Oros die Weltenmaschine finden und in ihren ursprünglichen Zustand versetzen, würde er nicht nur die Herrschaft über Mekanis zurückerlangen. Er könnte die ganze Menschenwelt in eine Art Mechanismus verwandeln, der für ihn nicht mehr wäre als ein Uhrwerk für einen Uhrmacher. Bitte nimm diese Warnung ernst, Sophia! Oros verfügt über große Macht. Hast du dich schon einmal gewundert, warum ein Automat nicht das tut, was er eigentlich sollte? Bestimmt. Aber du hast dabei wohl kaum an diesen Unhold gedacht. Alles, was er anfasst, ob Apparate oder Menschen, ist ihm zu Willen. Männer, Frauen und Kinder werden zu seelenlosen Maschinen, sobald er sie nur mit den Händen berührt. Was das bedeutet, ist klar. Er befehligt inzwischen eine große Schar von Dienern und Spionen, manche aus Metall und Silizium, andere aus Fleisch und Blut. Selbst vor Mord schreckt er nicht zurück. Auch der Türke Taqi al-Din und der Spanier Giovanni Torriano, die beiden berühmten Uhrmacher, mit denen Hans Gruber den kosmischen Mechanismus gebaut hat, starben 1585 unter mysteriösen Umständen – durch
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