Der verbotene Schlüssel
Turm herrschte jetzt völlige Stille. Sophia zitterte leicht. Sie wäre nicht unglücklich darüber gewesen, wenn der ertappte Stundenwächter sich zurückgezogen hätte. Verweilte er noch bei dem erstarrten Uhrwerk, ihm zürnend, weil es ihn verraten hatte? Oder heckte er etwas Böses aus? Vielleicht konnte er sich wie ein Geist lautlos fortbewegen, um …
Ein helles Zischen aus unmittelbarer Nähe ließ alle bangen Gedanken stocken. Die Gänsesägermutter verteidigte einmal mehr ihre Brut. Was führte Oros im Schilde, dass er sich so heimlich anschlich? Sophia wollte es lieber nicht herausfinden.
Rasch kletterte sie über das Gatter auf die Dielenbretter, über die man wie auf einer Brücke zur Glocke gelangte. In der Hast taumelte sie nach rechts.
Jetzt brichst du dir den Hals!
Dem schrecklichen Gedanken folgte ein schmerzhafter Aufprall gegen ein Geländer. Sie keuchte. Das war knapp! Besser ein blauer Fleck als ein Sturz in die Tiefe.
»Sei vorsichtig!«, flüsterte Theo. Seine Stimme war kaum zu hören.
Sophia verzog das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln.
In diesem Moment erschien Oros auf der Treppe, eine hagere, ganz in schwarzes Leder gekleidete Gestalt; seine Montur reichte bis zu den Fingerspitzen. Auf dem Kopf trug er eine jener altmodischen Lederkappen, wie sie früher Motorrad- und Cabriofahrer benutzt hatten. Seine Augen waren von einer ebenso antiquierten Schutzbrille verdeckt. Auf den Blindenstock hatte er diesmal verzichtet. Er betrat die Glockenkammer und lächelte Theo an.
»Machst dir eine alte Uhr und eine Ente zu Verbündeten – du bist schon immer ein gescheiter Kopf gewesen, kleine Ameise.« Sein Blick wechselte über das Gatter hinweg zu Sophia. »Oder war das deine Idee, sich im Zeitturm zu treffen? Ein wahrhaft symbolträchtiger Ort für eine solche Zusammenkunft! Habt ihr sie dabei?«
»Die Weltenmaschine?« Theo übernahm jetzt das Gespräch – so hatte er es mit Sophia verabredet. Er verkürzte die Distanz zum Stundenwächter um einen Schritt und spielte den Einfaltspinsel. »Wir geben sie Euch nur unter einer Bedingung zurück.«
»Fängst du schon wieder damit an, dich mir zu widersetzen?« Oros schüttelte den Kopf, wie ein von seinem Schüler enttäuschter Lehrer. Dann wischte er mit der Hand durch die Luft. »Ich nehme mal an, ihr zwei habt irgendeine Hinterhältigkeit ausgeheckt, damit ich mir die Uhr nicht einfach greifen kann. Also, lasst hören. Was wollt ihr?«
»Wenn wir sie Euch übergeben, müsst Ihr in Euer Reich zurückkehren.«
»Nichts lieber als das. Diese gefühlsduseligen Menschen öden mich nur noch an. Seit über vierhundert Jahren sehne ich mich schon nach meinem Mekanis. Dort geht alles seinen geregelten Gang …«
»… und jeder tanzt nach Eurer Pfeife. Das kennen wir«, unterbrach Theo den Stundenwächter. »Wir verlangen aber noch etwas von Euch: Gebt uns Euer Wort, dass Ihr die Menschheit für immer in Frieden lasst. Keine Spielchen mehr mit den Naturgewalten wie in Ys oder mit der Zeit wie damals an Euphrat und Tigris …« Er wich verstummend zurück, weil Oros, die Hände zu Fäusten geballt, plötzlich einen schnellen Schritt auf ihn zugemacht hatte.
»Du wagst es, mir Forderungen zu stellen?«, zischte er zornig. »Niemand widersetzt sich mir. Rück sofort den kosmischen Mechanismus heraus oder ich halte eure Herzen an … Nein, besser noch: Ich mache seelenlose Maschinen aus euch. Dann könnt ihr mir nützlich …«
»Stopp!«, rief Sophia. Ihr Befehl hallte wie magisch, weil sie sich beim ersten Aufbegehren des Stundenwächters sofort unter die Glocke zurückgezogen und dabei das Nürnberger Ei aus dem Rucksack gerissen hatte. Am ausgestreckten Arm hielt sie es aus dem Fenster und drohte mit bebender Stimme: »Noch einen Schritt, nur eine falsche Bewegung Ihres kleinen Fingers und ich lasse es in die Tiefe fallen.«
Oros trat rasch ein Stück zurück und machte mit nach unten gewandten Handflächen eine beschwichtigende Geste. »Gemach, Jungfrau Sophia. Sicher können wir uns auf eine für alle Seiten akzeptable Lösung verständigen.«
Ihr fiel auf, dass er sie mit Vornamen ansprach, obwohl sie im E-Mail-Verkehr immer nur ihr Kürzel benutzt hatte. Sie hatte mit ihrer Vermutung also richtiggelegen: Der Stundenwächter kannte sie. Fragte sich nur, wie lange schon? Wenn er tatsächlich ihre Eltern ermordet hatte, dann mochte er es damals auch auf sie abgesehen haben …
»Was versteht Ihr unter einer ›akzeptablen
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