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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Sophia, und zieh es auf.«
    Sie langte in den Rucksack, wühlte einen Moment hektisch darin herum und holte die Uhr heraus. Um die Hände freizuhaben, warf sie sich die Tasche über. »Lass mich bitte nicht los, Theo.«
    Er lächelte. »Nie wieder. Zieh einfach die Uhr auf. Es ist eine Minute vor zwölf.«
    Sophia drehte den Schlüssel herum. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis die vertraute Sphärenmusik den Zeitturm erfüllte. Ob die Menschen unten sie hören konnten? Ob sie sich wunderten, dass ihr Turm so ganz neue Töne anschlug …?
    Sophia spürte ein unangenehmes Ziehen in den Gliedern.
    Im nächsten Moment waren sie, Theo und Oros aus dem Uhrenturm verschwunden.

35
    A nscheinend konnte sich der Körper an die Weltenwanderei gewöhnen. Sophias Benommenheit wich jedenfalls etwas schneller von ihr als bei ihrem letzten Besuch in Mekanis. Wie versprochen hatte Theo sie nicht losgelassen. Leider war auch der Stundenwächter immer noch da. Der Himmel über ihnen zeigte das Halbdunkel im Dachstuhl des Uhrenturms. Ohne allzu große Begeisterung erkundete Sophia mit Blicken den Ort ihrer Rückkehr ins Reich des Oros.
    Es war nicht das Tal der Gebeine. Aber es war wieder ein Tal. Wie mit der Spitze eines gigantischen Senklots in den Boden gedrückt, fiel es kegelförmig ungefähr einen halben Kilometer unter das Niveau der umgebenden Landschaft ab. Sophia stand mit Theo und Oros im oberen Viertel des Hangs. Aus der Mitte des Trichtertals ragte ein riesiges Metallgebilde auf.
    Obwohl es allem hohnsprach, was Sophia je über Häuser und Paläste erfahren hatte, schien sein Zweck doch in diese Richtung zu gehen. Es war eine Ansammlung verschiedener geometrischer Körper, darunter Kugeln, Kegel, Kuben, Zylinder, Quader, Trapezoeder, Hexaeder und sonstige Polyeder. Alle backten irgendwie aneinander wie Nudeln, die man zu lange warm gehalten hatte. Der Haupteingang des Formensammelsuriums war offenbar ein riesiges Ei, das wie eine schwarze Perle schimmerte. Hier und da konnte Sophia überdies weitere Türen sowie Fenster, Balkone, Außenterrassen, Stege, frei schwebende Übergänge und andere Anbauten ausmachen. Manche Teile der Fassade strahlten wie poliert, überwiegend wirkte sie jedoch abgeschabt. Hier und da hatte sie Rost angesetzt – wahrscheinlich die Folge des ersten und vermutlich letzten Regens, den Theo vor vierhundert Jahren über das Reich gebracht hatte.
    Dem Himmel entgegen reckte sich wie eine strahlende Krone das auffälligste architektonische Element des Bauwerks: Es waren sieben gold glänzende Halbkugeln, von denen sich jede in eine andere Richtung bewegte. Sie wurden gestützt von einem Turm aus sieben silbernen Quadern, jeder nach oben hin etwas kleiner als der darunterliegende. Ab und zu blieben die schimmernden Sphären stehen wie die Unruh einer Uhr, um gleich darauf entgegengesetzt weiterzurotieren. Im Moment des Innehaltens meinte Sophia, auf der spiegelnden Oberfläche die Umrisse der irdischen Kontinente zu erkennen.
    Sie erinnerte sich daran, was Theo erzählt hatte. Lykos habe ihm erklärt, der König wohne nicht weit von der Zeitwäscherei an einem unsichtbaren Ort. Wer am Rand des Trichtertals stand, der konnte ihn aber sehr wohl sehen, den …
    » Palast der Sieben Sphären nenne ich mein unbescheidenes Heim«, sprach Oros ihren Gedanken aus. Er schien riesig stolz darauf zu sein. »Die Halbkugeln übertragen meine Macht in den Strom der Zeit.«
    »Und ich dachte, das geschieht in der Wäscherei«, sagte Theo tonlos. Er befreite seine Hand aus dem Griff des Königs und wischte sie an der Hose ab.
    Der übersah das deutliche Signal der Abneigung und gefiel sich in der Rolle des Lehrers. Mit ausladenden Gesten erklärte er: »Die ist nur ein Steuerungswerkzeug, wie ein Stauwehr, mit dem der Abfluss des Wassers geregelt oder manchmal so gut wie ganz unterbunden wird. Der Palast hingegen gleicht eher dem Wind, der es zu Wellen auftürmt und vor sich hertreibt …« Er unterbrach seine Lektion, als sich jäh die Welten umkehrten.
    Sophia und Theo verfielen in eine kurze Starre, kaum länger als die Zeit zwischen zwei Atemzügen. Der Himmel erstrahlte in der Mittagssonne, die eben noch über Luzern gelacht hatte.
    »Jetzt steht alles Leben in der Menschenwelt still …«, sagte Oros sichtlich erfreut, und bevor die Benommenheit von den anderen beiden ganz abgefallen war, schossen seine Arme so schnell wie die Zunge eines Chamäleons vor, rissen Sophia das Uhr-Ei aus den Händen und zogen

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