Der verbotene Schlüssel
Inhalts:
Sehr geehrter Herr P. A.,
ich bin fasziniert von einem alten Uhrenmechanismus, ein Familienerbstück. Erst dachte ich, er sei nur eine Eieruhr, weil er auch so geformt ist. Inzwischen glaube ich, er ist gar keine richtige Uhr. Leider ist er kaputt. Ich habe ziemlich gerätselt, was sein Zweck sein mag. Zufällig ist mir dann im Internet ein Bild vom Antikythera-Mechanismus aufgefallen. Die vordere Skalenscheibe ähnelt unglaublich dem gläsernen Ziffernblatt meiner »Eieruhr«. Weil Sie sich in dem Thema auszukennen scheinen, wollte ich Sie um Hilfe bitten. Vielleicht können Sie das Rätsel der Uhr ja lösen. Oder einem ratlosen Mädchen wie mir sogar einen guten Uhrmacher empfehlen, der sie reparieren kann. Über eine Antwort würde ich mich freuen.
Viele Grüße
S.
»Willst du nicht lieber mit einem anderen Buchstaben unterschreiben?«, fragte Theo. Ihm misshagte sichtlich das forsche Vorgehen seiner Freundin.
»Du meinst, weil ich ihm damit einen Hinweis auf meine wahre Identität gebe? Die kennt er doch sowieso schon längst. Er hat mich bei der Wohnung von Opa Ole aufgespürt und später sogar im Laden von Tante Lotta. Oros weiß, dass ich Sophia Kollin bin, und wenn er hinter dem Kürzel mich vermutet, dann ist das umso besser. Er soll sich wie die Spinne fühlen, vor deren Netz eine Fliege herumschwirrt.«
»Die aber nicht die Gottesanbeterin sieht, die ihr schon auflauert.«
»Sehe ich aus wie eine Heuschrecke?«
»Eher wie eine Göttin.«
Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und wandte sich schnell wieder ihrem Notebook zu. »Also dann, schießen wir mal unseren Köder los.« Ihr Zeigefinger hämmerte auf die Enter-Taste, es machte quietsch! und die Nachricht war raus.
Anscheinend verfügte der König von Mekanis über einen zusätzlichen Sinn, der pausenlos ins World Wide Web hineinlauschte. Wie anders war es zu erklären, dass schon nach wenigen Minuten eine Antwort auf Sophias Ködermail kam? Sie war ebenfalls in Englisch verfasst.
Liebe S.,
ich bin Professor Pantaleon Arabatzis und befasse mich am Nationalen Archäologischen Museum in Athen mit OOPA rts. Das ist die gängige Abkürzung für »Out-of-place artifacts«, also Objekte von archäologischem, geschichtlichem oder paläontologischem Interesse aus einem ungewöhnlichen oder scheinbar unmöglichen Umfeld. Vielleicht hast du schon von dem »Eisernen Mann« im Kottenforst nahe dem deutschen Swisttal gehört, eine kopflose Eisensäule aus der Römerzeit, die aber nach einem Gussverfahren hergestellt wurde, das erst im Spätmittelalter aufkam. Auch der von dir erwähnte Antikythera-Mechanismus ist ein OOPA rt und ich beschäftige mich seit geraumer Zeit damit. Deshalb hat mich deine Mail geradezu elektrisiert. Wenn es in der Tat eine Uhr gibt, die nach demselben Prinzip arbeitet, so wäre das eine wissenschaftliche Sensation. Kann ich dich treffen und mir die Uhr ansehen? Ich werde keine Kosten und Mühen scheuen, deine »Eieruhr« zu bestaunen.
Grüße
Prof. Arabatzis
»Vielleicht ist dieser Gelehrte gar nicht Oros?«, sagte Theo. Seine Miene war so düster wie in letzter Zeit schon lange nicht mehr.
Sophia klopfte ihm aufmunternd aufs Knie. »Normalerweise täte ich niemals auf so eine Mail reagieren. Leider ist das Netz voll von Perversen, die ›ratlosen Mädchen‹ nur zu gerne die Welt erklären würden. Aber der da ist was Besonderes.« Sie deutete auf den Monitor.
»Und wieso bist du dir da so sicher?«
»Weil Oros zu mir spricht.«
»Ach, tatsächlich?«
»Findest du es nicht komisch, dass er mir den Begriff Out-of-place artifact ausgerechnet am Beispiel des Eisernen Mannes erklärt? Es hätte doch genügt, den Antikythera-Mechanismus zu erwähnen. Aber nein, er plaudert so ganz nebenbei von einer ›kopflosen Eisensäule‹. Der Fiesling will uns zu Gedankenverbindungen anregen, die unsere Gefühle aufpeitschen. Oder hast du eben etwa nicht an deinen Freund Nullus gedacht? War der Ohnekopf etwa kein eiserner Mann?«
»Doch«, knurrte Theo. »Und was machen wir nun?«
»Nico ist noch nicht so weit.« Sie grinste. »Also halten wir Oros hin. Wir lassen ihn so richtig schmoren. Und dann zeige ich dir, was für eine begabte Nachwuchsschauspielerin ich bin.«
34
D as Horolog im Luzerner Zytturm schlug seit Hunderten von Jahren eine Minute vor allen anderen Kirchenglocken der Stadt. Sophia erinnerte diese Tradition an die Zeitwäscherei: ein großer Mechanismus, der jede sechzigste Minute wegwischt.
Weitere Kostenlose Bücher