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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Natürlich war das so nicht ganz richtig. Das älteste Uhrwerk der Innerschweiz ging lediglich eine Minute vor. Die Stadtregierung hatte, der Kirche zum Trotz, auf diese Weise ihre Macht über die Zeit unterstreichen wollen.
    Der Trick erschien Sophia wie ein kindlicher Streich, wie der plumpe Versuch, die Machenschaften des Stundenwächters nachzuahmen. Sie hatte die Glockenkammer im Dachstuhl des mittelalterlichen Turms aus einer Reihe von Gründen für das Treffen mit Professor Arabatzis ausgesucht. Erstens weil Oros die ehrwürdige Uhr nicht würde betrügen können, und zweitens, weil der rechteckige Turm mit seinen fast sechsunddreißig Metern die für ihre Zwecke nötige Höhe besaß.
    Es war ein sonniger Dienstag im Mai. Bei dem milden Frühlingswetter ließ sich nur schwer an dunkle Machenschaften denken. Sophia und Theo liefen nichtsdestotrotz wachsam durch den alten Stadtkern von Luzern. Über das Kopfsteinpflaster der Mariahilfgasse, vorbei an den vorbildlich restaurierten Gebäuden der hiesigen Hochschule nahmen sie den Anstieg zur nördlich gelegenen Museggmauer. Aus einem offenen Fenster drangen Geigenklänge: ein Musikschüler, der mit einem alten Meister rang. Kurz nachdem sie in die Museggstraße eingebogen waren, stiegen sie über eine Treppe in die grüne Lunge der Stadt auf, die sich beiderseits der alten Wehrmauer mit ihren neun Türmen erstreckte.
    Der gewundene Weg führte zum trutzigen Schirmerturm, wo er sich gabelte. Die beiden liefen nach links, folgten ein kurzes Stück dem Mauerverlauf und durchquerten bald ein schmiedeeisernes Tor. Einen Steinwurf weit dahinter ragte zur Rechten der Zytturm auf, ein graues, wehrhaft anmutendes Gemäuer von nahezu neun mal acht Metern. Davor standen wie riesenhafte Wächter zwei Mammutbäume.
    In ständiger Alarmbereitschaft näherte sich das Paar dem bald fünfhundertsiebzig Jahre alten Bauwerk. Es bestand aus groben Steinen verschiedenster Größen. Sophias Blick wanderte nach oben. Die Glockenkammer unter dem Spitzdach kam ihr, weil sie etwas breiter als der eigentliche Turm war, wie ein aufgesetztes Haus vor …
    Plötzlich schoss ein pechschwarzer Vogel aus einer Nische an der Außenmauer und flatterte über Sophias Kopf hinweg. Sie zuckte erschrocken zusammen.
    »Nur eine Dohle«, beruhigte sie Theo.
    Sophia nickte beklommen. Ihre heftige Reaktion zeigte nur, wie angespannt sie war. Dabei hatte Nico dei Rossi ihnen erzählt, dass die alten Musegggemäuer zahlreichen Vögeln und Fledermäusen als Nist- und Wohnquartier dienten.
    Für die letzten Schritte zum Eingang mussten die zwei einen schmalen Pfad überqueren, der an einem winzigen Teich und immergrünen Bäumen vorbeiführte. Ihre Augen suchten ständig die Umgebung ab, doch weder sahen sie Oros noch marionettenhafte Menschen. Sophia wagte einmal mehr, nach oben zu blicken.
    Das Ziffernblatt unter der Dachspitze war so riesig, dass es früher sogar den Fischern weit draußen auf dem Vierwaldstättersee die Zeit angezeigt hatte. Die eiserne Mechanik dahinter wie auch das dazugehörige Schlagwerk wurden von je einem schweren Steingewicht angetrieben. Nico dei Rossi, von dem sie all dies wussten, hegte und pflegte die Uhr seit vielen Jahren. Sophia hatte ihn gefragt, warum sich ein betagter Mann wie er nach wie vor täglich zum Uhrwerk hinaufschleppte. Die Antwort war typisch für den kauzigen Doctor Mechanicae: »Wer rastet, der rostet. Außerdem müssen alte Kameraden zusammenhalten.« Obwohl der Luzerner Stadtuhrmacher für das aus dem Jahr 1535 stammende Räderwerk also wie für einen alten Weggenossen empfand, hatte er Theo und Sophia den Schlüssel dazu anvertraut.
    Das unterste Geschoss des Turms war zur Stadt hin offen. Nur ein schlichter Bretterverschlag unter einem hohen Rundbogen versperrte den Zugang. Das Sicherheitsschloss in der Holztür ließ sich leicht öffnen, ihre Angeln hingegen quietschten vernehmlich. Die beiden Jugendlichen warfen einen letzten Blick auf den Parkweg vor dem Turm – er war wie ausgestorben – und traten ein. Sie ließen die Tür angelehnt – für den, der nach ihnen kommen würde.
    Theo deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe, um Sophia auf ein Geräusch aufmerksam zu machen, das sie vor lauter Aufregung noch gar nicht bemerkt hatte. Das lange Uhrenpendel schwang über ihnen in tiefem Tack, Tack, Tack … Es hörte sich an, als schleppe sich ein alter Seebär mit Holzbein über ein Schiffsdeck.
    Im Halbschatten hinter der Lattenwand war es empfindlich

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