Der verbotene Schlüssel
kühl. Die beiden trugen nur kurzärmelige Polos zu ihren Bluejeans. Sophia steckte den Schlüssel des Stadtuhrmachers in ein weiteres Schloss, das sich in einem grauen Kasten links an der Wand befand, und schaltete damit die elektrische Beleuchtung ein. Diese Aufgabe werde, wie Nico erklärt hatte, zwischen Karfreitag und Allerheiligen normalerweise jeden Morgen vom Turmwart erledigt. Weil allerdings gerade ein neues Vogelschutzgitter im Glockenfenster der Dachkammer angebracht wurde, sei der Zytturm derzeit für die Öffentlichkeit gesperrt.
Gemäß einer Informationstafel an der Wand, die einen Längsschnitt des Gebäudes und dessen wichtigste Daten zeigte, war es insechs Geschosse unterteilt. Sophia und Theo machten sich an den Aufstieg. Dazu diente eine steile, augenscheinlich schon recht alte Holztreppe, die sich innen an der Turmmauer nach oben wand.
Im ersten Stock standen ein paar weiße Gartenstühle. Ohne haltzumachen, liefen die Freunde weiter. Mit jeder weiteren Etage wurde die Riesenhaftigkeit der fast ein halbes Jahrtausend alten Uhr greifbarer. Zunächst deuteten darauf nur zwei viereckige Löcher in der Decke hin, durch die sich die Steingewichte im Laufe des Tages auf wohl zwölf Meter oder mehr abseilten.
Dann kam das gewaltige Pendel in Sicht, dessen Länge allein acht Meter betragen mochte; gemächlich schwang es hin und her. In das damit verbundene Geräusch mischte sich das Ächzen der alten Holzstufen, was in Sophias Ohren durchaus beruhigend klang. Hätte lediglich die Treppe geknarrt, würde Oros sie bereits erwarten. Trotzdem schien ihr Rucksack von Stufe zu Stufe schwerer zu werden. Bald kam es ihr so vor, als schleppe sie Wackersteine den Turm hinauf. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Zwölf vor zwölf. Sie hatten noch Zeit.
Dem ehrwürdigen Horolog schenkten die zwei auf dem Weg nach oben trotzdem nur einen kurzen Blick. Es war ein überraschend einfacher, schwarz gestrichener Mechanismus mit nur wenigen Zahnrädern und zwei Seilrollen für die Steingewichte. Sonor verrichtete es sein Werk.
Als Sophia die schmale, ausgetretene Steintreppe zur obersten Kammer in Angriff nahm, hörte sie neben sich unvermittelt ein helles Zischen wie von einer Schlange. Vor Schreck wich sie von der Wand zurück und wäre wohl die Stufen hinabgefallen, wenn Theo sie nicht festgehalten hätte. Ängstlich klammerte sie sich an ihm fest.
»Was war das?«
»Bestimmt nicht Oros, falls du das gedacht hast«, antwortete er und deutete grinsend auf ein Loch zwischen den Mauersteinen, das mit einem Metallgitter verdeckt war. »Das Geräusch kam von dort. Ich würde sagen, du hast ein Tier aufgeschreckt.«
Sophia war die eigene Schreckhaftigkeit mit einem Mal peinlich. Sie befreite sich verlegen aus Theos Griff und räusperte sich. »Stimmt. Der alte Nico hat doch von dem Gänsesägerweibchen erzählt, von der Entenmutter, die jedes Jahr ihr Nest hier oben baut.«
Theo nickte. »Der Vogel wollte sicher nur seine Brut verteidigen. Lass uns weitergehen. Oros kann jeden Moment hier aufkreuzen.«
Ein paar Stufen später standen sie unter den alten, hölzernen Balken und Sparren des Dachstuhls. Die Grundfläche der Kammer war nicht nur größer als an der Basis des Turms, die Wände mussten hier oben auch dünner sein. Nur so ließ sich der steinerne Außengang erklären. Man lief gewissermaßen auf der Oberkante der Turmmauer, wenn man zu den drei Fensterpaaren gelangen wollte, die Ausblicke nach Norden, Westen und Osten gewährten.
Zur Altstadt hin gab es nur eine einzige, mittig platzierte Öffnung, in der die stattliche Stundenglocke hing. Per Seilzug und Hebel war sie mit dem Schlagwerk verbunden. Damit Besucher die Funktion des Ganzen nicht störten, hatte man den außen verlaufenden Gang mit einem Gatter aus Rundhölzern vom Innenraum abgetrennt. Weil der nur zu etwa zwei Dritteln mit Bohlen abgedeckt war, schützte die Barriere zugleich vor Stürzen ins darunter liegende Stockwerk.
Sophia nahm den Rucksack ab und öffnete den Reißverschluss. Mattes Licht fiel auf ein messingfarbenes Ei.
Ein leises Quietschen vom Fuße des Zytturmes ließ sie aufhorchen. »Das war die Tür. Ob er das ist?«, flüsterte sie.
Theo sah sie nur aus seinen hypnotischen Augen an.
Schritte waren zu hören. Knarrende Stufen. Jemand stieg die Treppe hinauf. Ohne Eile.
Mit einem Mal blieb das Pendel stehen.
Sophia bekam eine Gänsehaut.
»Es ist Oros«, wisperte Theo und stellte sich schützend vor sie.
Beide lauschten. Im
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