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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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in Richtung Zille-Park entschwand.
    Während ihre Füße förmlich über das Kopfsteinpflaster flogen, versuchte sie zu begreifen, was da eben geschehen war. Hatte sie nur einen alten Schwerenöter abgehängt, der gerne junge Mädchen betatschte …?
    »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!«, quäkte es auf einmal hinter ihr.
    Sophia hatte inzwischen die Schröderstraße überquert und drehte sich nach dem Rufer um. Es war der Postmann. Jetzt hörte er sich nicht mehr fröhlich an wie gerade eben noch, sondern irgendwie mechanisch. Man hätte meinen können, die synthetische Stimme einer Computeransage zu hören. Samt seiner schweren Rollentasche lief er ihr hinterher. Seine Bewegungen wirkten hölzern. Unablässig wiederholte er seine Anweisung. »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!« Jedes Mal klang er ein wenig atemloser.
    Sophia rannte weiter. Warum eigentlich?, fragte sie sich. Wieso floh sie vor dem Mann? Wäre es nicht besser, sich einfach umzudrehen und mit ihm zu sprechen …?
    Nein. Lieber nicht. Ein Gefühl, tief unten in ihrem Bauch, schrie: Lauf so schnell du kannst!
    Als rechts von ihr der kleine Zille-Park auftauchte, wurde das Keuchen des übergewichtigen Postzustellers besorgniserregend. Nicht dass sie fürchtete, von ihm eingeholt zu werden. Eher machte sie sich Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Warum blieb der Kerl nicht endlich stehen, anstatt sein armes Herz wie einen überforderten Motor unbarmherzig zu überdrehen? Sie wandte sich abermals um.
    Ein gutes Stück hinter dem fetten Verfolger taumelte gerade der Mann mit dem Blindenstock aus dem Haus Nummer 70. Fahrig rückte er mit beiden Händen seine Brille zurecht. Sie musste sich beim Zusammenprall mit der Haustür verschoben haben. Plötzlich blitzte hinter dem schwarzen Augenschutz ein gleißender Lichtstrahl hervor, ganz kurz nur, aber es reichte, um Sophia vor Schreck straucheln und beinahe der Länge nach hinfallen zu lassen. Stolpernd fing sie sich ab und kam zum Stehen.
    Achte auf Menschen, deren Augen wie die Sonne strahlen. Daran soll man Oros erkennen können. Beim Gedanken an die warnenden Worte ihres Großvaters gefror ihr fast das Mark in den Knochen. Konnte das wirklich wahr sein? Hatte sie eben den Stundenwächter gesehen?
    Es blieb keine Zeit, nach weniger irrwitzigen Erklärungen für ihre Beobachtungen zu suchen. Sowohl der Briefträger als auch Oros oder um wen es sich bei dem Alten handelte waren nach wie vor hinter ihr her.
    Sie begann wieder zu laufen, noch schneller als zuvor. Als sie die nächste Querstraße erreichte und sich erneut nach dem Postmann umsah, brach er gerade keuchend auf dem Fußweg zusammen. Er wäre sicher ein Stück weiter gekommen, wenn er seinen schweren Trolley losgelassen hätte. Nun lag er wie tot auf dem Pflaster. Sophia erwartete fast, dass er gleich wie eine kaputte Aufblaspuppe in sich zusammenfallen würde. Doch darauf wollte sie nicht warten. Dem Stundenwächter war die Luft noch nicht ausgegangen. Mit der ruhigen Ausdauer eines erfahrenen Jägers lief er hinter ihr her. Schnell bog sie nach links in die Torstraße ein und verlor die Verfolger aus den Augen.
    Ginge es nach den fröhlich zwitschernden Vögeln, müsste die Welt sich ewig weiterdrehen. Von Sophia prallte die Ausgelassenheit der Piepmätze wirkungslos ab. Sie hatte nach dem eben Erlebten plötzlich Zweifel an der Verlässlichkeit der Naturabläufe bekommen. Das machte sie wütend. Sie konnte nicht fassen, dass sie, ein Mädchen des 21. Jahrhunderts, überhaupt die Existenz eines Herrschers der Zeit in Erwägung zog. Obwohl sie dagegen ankämpfte, bekam sie einfach nicht die Warnung ihres Großvaters aus dem Sinn. Die alten Überlieferungen lassen befürchten, dass allein der Gedanke an den kosmischen Mechanismus ausreicht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie achtete man auf eine Gefahr, ohne an sie zu denken? Sie schnaubte erbost. »Ist doch unmöglich!«
    Unwirsch ließ sie ihren Blick über den Jüdischen Friedhof schweifen, der, vom Grabstein des Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn abgesehen, eher ein Park war. Sie hatte mit ihrem Gepäck vielleicht einen Kilometer zurückgelegt, bis auch ihr die Puste ausgegangen und sie hier auf eine Bank gesunken war. Jetzt saß sie zwischen Wegen, Wiesen und dicht belaubten Bäumen. Das frühlingsgrüne Blattwerk spendete Schatten und dämpfte den Großstadtlärm – es schuf die Illusion einer friedlichen Oase. Sophia hoffte, in der Grünanlage zumindest

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