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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ich dir meine Geschichte erzähle. Ein besonderes Zeitfenster.«
    Sie folgte ihm fünf oder sechs Schritte weit zu der Stelle. In der glänzenden Wand erblickte sie eine Parkbank. Daneben stand eine Frau, die mit dem Finger vorsichtig gegen den Kartondeckel auf der verwaisten Sitzfläche stieß, so als könne dieser sie jeden Moment anspringen.
    »Dort hast du die Uhr aufgezogen, nicht wahr?«, fragte Theo.
    Sie nickte beklommen.
    »Ich nenne es das Nächste Fenster , weiles immer den Ort zeigt, von dem aus zuletzt ein Mensch nach Mekanis gekommen ist. Als ich plötzlich die Bank sah und aus meiner Starre erwachte, ahnte ich, dass ich im Labyrinth nach jemandem suchen musste. Wie oft hast du den Schlüssel an der Uhr herumgedreht?«
    »Wieso?«
    »Weil sich die Welten umstülpen werden, sobald sie wieder stehen bleibt.«
    Sophia erschrak. »Was meinst du mit umstülpen …?«
    »Ich meine, dass die Menschenwelt in die Uhr gezogen und Mekanis nach außen gekehrt wird.«
    Sie starrte ihn entsetzt an. Davon hatte sie im Merkwürdigsten Buch gelesen – und es für eine schaurig hübsche Fantasie ihres Großvaters gehalten. »Aber wenn das Uhrwerk dann steht, müsste nicht auch …?« Ihr versagte die Stimme.
    »… die Welt der Menschen erstarren?« Er nickte. »Genauso wird es geschehen.«
    »Und das kann man nicht aufhalten?«
    Theo zuckte mit den Achseln. »Doch. Du musst das Räderwerk bloß bis in alle Ewigkeit in Gang halten.«
    Ihr Kopf fuhr zu der Kiste herum, die neben dem Rucksack auf dem Boden stand. Sie konnte die Dimension ihres Handelns nicht wirklich abschätzen. Ihr war nur klar, dass sie Zeit gewinnen musste. »Ich werde sie aufziehen«, stieß sie hervor und begann loszulaufen.
    »Warte!«, rief Theo und rannte ihr hinterher.
    Kurz vor dem Karton ließ sie sich wie ein erfolgreicher Torschütze im Fußball mitten im Lauf nach vorne kippen, schlitterte das letzte Stück auf den Schienbeinen und griff mit der Hand in die Kiste. Als ihre Fingerspitzen das Uhr-Ei berührten, hatte ihr Verfolger sie eingeholt.
    In diesem Augenblick kam das Uhrwerk mit einem leisen Klick! zum Stehen.
    Sophias Oberkörper wurde nach vorne gedrückt, als er den Schwung des Jungen auffing. Theo packte sie am Handgelenk und zog es zurück.
    »Warrrteeeee …« Während er das Wort rief, klang seine Stimme immer tiefer, so als käme sie von einer Schallplatte, die ein verspielter Discjockey mit dem Finger abbremste. Sophia spürte am eigenen Leib, wie die Welt Mekanis sich verlangsamte. Würde sie, das Mädchen aus dem 21. Jahrhundert, jetzt mit diesem archaischen Reich der Maschinen erstarren und wie der Junge aus der Antike in einen jahrhundertelangen Dornröschenschlaf fallen?
    »Scheint ein Charakterzug deiner Familie zu sein.« Theo hörte sich wieder ganz normal an.
    Sophia wirbelte zu ihm herum, befreite sich wütend aus seiner Umarmung und stand mit dem Uhr-Ei in der Hand auf. »Du stammst wohl aus der Zeit, als man Mädchen noch mit der Keule eingefangen hat?«
    Er sah sie von unten herauf verständnislos an.
    Sie breitete die Arme aus. »Was sollte das eben, Theo? Es ist doch alles in Ordnung.«
    »In Ordnung?« Er lachte, stemmte sich wie ein Reckturner vom Boden hoch und deutete aus dem Fenster. »Fällt dir was auf?«
    Sophia blickte hinaus und schüttelte den Kopf.
    »Sieh dir den Himmel an.«
    Auch das tat sie. Er wirkte nicht mehr so blass wie vorher. Und die seltsamen Spiegelungen waren ebenfalls verschwunden. »Was ist damit?«
    »Er ist echt.«
    »Ach was!«
    »Die Welten haben sich umgestülpt. Wir sehen den richtigen Himmel. Es ist derselbe, der sich eben noch über deinen Friedhof gewölbt hat.«
    »Er gehört nicht mir«, erwiderte sie gereizt.
    »Jedenfalls ist der Totenacker jetzt totenstill. Weil er in der Uhr steckt. Mit allem Drumherum. Nichts rührt sich darin mehr.«
    »Meinst du damit, die ganze Erde?«, fragte Sophia ungläubig.
    »Nicht den Planeten. Zumindest nicht, soweit ich die Weltenformel aus dem Buch der Zeit verstehe. Stell dir die Erde als Tisch vor. Wenn das Uhrwerk anhält, wird das eine Tischtuch heruntergezogen und ein neues drüber ausgebreitet. Ersteres verschwindet in dem kosmischen Mechanismus und kommt mit dem Räderwerk zum Stillstand.«
    »Und der Stundenwächter?«
    »Ist auch erstarrt.«
    »Na also. Wo ist das Problem? Werfen wir das Tischtuch weg.«
    »Drücke ich mich so undeutlich aus, Sophia? Deine Welt existiert nicht mehr. Zumindest nicht so, wie du sie kennst.« Er

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