Der verbotene Schlüssel
Person anzufassen, und sogleich sind nicht mehr die Naturgesetze ihr oberstes Regelwerk, sondern die mekanischen: Der Mensch sieht zwar noch aus wie ein Mann oder eine Frau, handelt aber wie eine Maschine – streng nach den Befehlen des Herrschers der Zeit.« Der Junge deutete auf den Karton. »Kann ich dir das abnehmen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Geht schon.«
»Dann komm, ehe uns die Decke aufs Hirn fällt.« Er grinste und lief weiter.
Sie bemerkte jetzt erst, dass die Höhe des Ganges tatsächlich wieder bedrohlich abgenommen hatte. »Was ist das für ein Ort hier?«
»Wir sind im Labyrinth der Zeit .«
Sophia lachte hysterisch. Sie kam sich dämlich dabei vor, aber sie konnte nicht anders.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Ich habe nur vor ein paar Minuten genau dasselbe gedacht. Ansonsten geht’s mir prächtig. Eine Uhr hat mich eingesogen, und ich werde von einem Irren mit Blindenstock verfolgt, der mich in einen Roboter verwandeln will. Warum sollte es mir nicht gut gehen?«
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Blindenstock?«
»Komisch, ich hätte eher angenommen, du fragst mich, was ein Roboter ist.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein Maschinenmann ohne Grips und Gefühl. Ole hat mir viele eurer neumodischen Wortschöpfungen beigebracht. Ich hatte hier mal einen Freund ohne Kopf, den du wahrscheinlich für einen Roboter gehalten hättest. Was war jetzt mit diesem Irren, den mit dem Blindenstock?«
Sie schluckte. »Er hatte strahlende Augen.«
»Das haben wir befürchtet.«
»Wir?«
»Dein Großvater und ich. Oros ist den Kollins schon lange auf den Fersen. Ole glaubte sogar, dass der Stundenwächter seinen Sohn getötet …«
Sophia stieß einen erstickten Schrei aus. Theos Bemerkung traf sie wie ein Schlag. Ihr schossen Tränen in die Augen.
»Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.
»Sehe ich so aus?«, fuhr sie ihn an. »Ole hatte nur einen Sohn. Rasmus. Mein Vater. Meine Eltern sind genauso gestorben wie er: durch plötzlichen Herzstillstand.«
Theo nickte traurig, überrascht wirkte er nicht. »Ole hat das kommen sehen. Das ist der Grund, weshalb er sich von euch zurückgezogen hat. Er wollte euch nicht in Gefahr bringen. Nach dem Tod seines Sohnes und seiner Schwiegertochter hatte er sich schwere Vorwürfe gemacht. Dein Wohlergehen war ihm von da an das Allerwichtigste. Er sagte einmal zu mir: ›Wenn Oros noch meine Enkelin umbringt, dann will ich auch nicht mehr leben.‹«
Jetzt verlor Sophia endgültig die Fassung. Sie schluchzte und weinte und glaubte, der Schmerz würde ihr das Herz entzweireißen.
Mit einem Mal war Theo neben ihr. Etwas unbeholfen streichelte er ihre Schultern und redete beruhigend auf sie ein. »Dein Großvater war sich nicht sicher, ob Oros wirklich deine Eltern ermordet hat.«
»Na prima! Dann hab ich ja keinen Grund zu flennen.« Ihre giftige Erwiderung passte nicht so recht zu dem Trost, den ihr sein Mitgefühl und die warme Hand auf dem Rücken spendeten.
»Wenn es dir guttut, schlag mich ruhig. Ich habe auch Schlimmes durchgemacht und kann dich verstehen.«
Mit dieser Äußerung brachte er ihren Zorn – für den er in Wahrheit nur der Blitzableiter war – aus dem Tritt. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Mit einem Mal war seine Nähe ihr peinlich. Verlegen drehte sie ihm den Rücken weg und musterte ihn von unten herauf aus ihren tränenverhangenen Augen. »Wie es scheint, weißt du so ziemlich alles über mich und meine Familie.«
Er schmunzelte. »Dass du so hübsch bist, hat mir Ole nicht verraten.«
Die Decke senkte sich ein weiteres Stück auf sie herab. Theo duckte sich, so als müsse er lediglich eine niedrige Tür durchschreiten. Er griff nach Sophias Ellenbogen und zog sie hinter sich her. »Als ich das letzte Mal aus meiner Starre erwachte, habe ich den Großvater deines Großvaters vor einer Zehngliedrigen Pandine gerettet. Ich musste sie ablenken, damit sie uns nicht mit ihrem Gift tötet. Deshalb konnte nur Erik entkommen. Mekanis kam wieder einmal zum Stillstand und ich war erneut hier gefangen. Du kannst von Glück sagen, dass du im Labyrinth der Zeit gelandet bist, denn draußen könnte immer noch Medusa lauern, die andere Pandine …«
Sophia schwirrte der Kopf. »Was bitte schön ist eine Pandine?«
Er schob sie in einen stillen Quergang, der beruhigend breit und hoch war. »Die Zehngliedrige Pandine ist ein Maschinenwesen mit dem Unterleib eines Skorpions. Von
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