Der verbotene Schlüssel
sie sich ganz sicher. Offenbar hatte er sogar beim Tod ihrer Eltern die Finger im Spiel gehabt – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn die Vermutung stimmte, dann hätte er um Haaresbreite auch ihr das Lebenslicht ausgeblasen. Der Gedanke an all das zog Sophia den Boden unter den Füßen weg. Nein, sie wollte keine Rache, sie wollte Gerechtigkeit – und nichts war ihr wichtiger. Trotzig reckte sie das Kinn vor und blickte Theo tief in die Augen. »Sag mir, wie wir Oros für seine Untaten büßen lassen können!«
Er hob verzweifelt die Schultern. »Da fragst du den Falschen. Dein Großvater hat es dir doch geschrieben. Die Lösung des Rätsels mag in meiner Geschichte verborgen sein, aber ich habe sie selbst nie herausgefunden. Ich weiß nur, was den Stundenwächter für eine gewisse Zeit bannen kann – du kennst ja den Mythos von Ys .«
»Du meinst sein Spiegelbild? Wenn er mit unbeschirmtem Auge den eigenen Glanz sieht, verliert er seine Kraft. Das dürfte schwierig werden, weil er ständig diese Brille trägt. Wir könnten versuchen, sie ihm irgendwie herunterzuschlagen. Einmal wäre es mir schon fast …«
»Nein!«, stieß Theo erschrocken hervor. Er bekam sich gleich wieder in den Griff und schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Sophia. Wie oft soll ich dir das noch sagen! Meine Freunde sind noch in Mekanis. Ich darf sie nicht im Stich lassen. Wenn wir die zweite Möglichkeit wählen, könnte ich sie retten: Wir müssen Oros in sein Reich zurückschicken und die Uhr dann an einem sicheren Ort verbergen, wenigstens für die nächsten zwei- oder dreitausend Jahre.«
»Und wie stellen wir das an? Ich meine, Oros in das Ei zu kriegen?«
»Mit einer List.«
»Toll! Geht es auch etwas genauer?«
»Ich habe in den letzten zweitausend Jahren ja nur ab und zu einen Blick in die Welt draußen geworfen. Gibt es in deiner Zeit noch Bibliotheken, die uns verraten können, was seit den Tagen von Poseidonios und Geminos passiert ist?«
Die Frage amüsierte sie. »Und ob es die gibt! Aber das dauert zu lang. Ich weiß etwas Besseres.« Sie deutete zum Computer auf ihrem Schoß. »Es nennt sich Internet.«
»Das weiße Kästchen ist ein Internet?«
»Nein. Es ist ein Fenster, mit dem man in unendlich viele … Bücher hineinsehen kann – in den meisten Fällen sind sie virtuell, so als wären sie aus Luft. Es sind also keine richtigen Bücher mit Seiten zum Umblättern …«
»Das kenne ich aus meiner Kindheit. Da hat man auf Rollen, Tontafeln oder sogar auf Diskusse geschrieben.«
»Ja, schön. Wo war ich stehen geblieben?«
»Bei virtuellen Tontafeln.«
»Ach ja, das Internet. Pass auf! Du hast doch gerade den goldenen Diskus erwähnt.«
Er nickte bestätigend. »Das Buch der Zeit.«
»Ja. Wie hatte Poseidonios noch die Symbole erlernt, die er zur Entzifferung der Scheibe brauchte?«
»Er hatte Schriften in der Bibliothek von Alexandria studiert. Sie stammten aus Kreta. Wenn die Priester in Phaistos, Knossos und Kato Zakros etwas aufschreiben wollten, das nur Eingeweihte lesen durften …«
»Phaistos!«, fiel sie ihm ins Wort. »Das war das zweite Stichwort, nach dem ich gesucht habe. Gwenole, der die Goldscheibe aus dem untergehenden Ys gerettet hat, kam auch von da. Lass uns etwas versuchen.«
Diesmal gab sie die Suchwörter »Diskus« und »Phaistos« ein. Einige Sekundenbruchteile später rollte das Ergebnis über den Bildschirm.
» Wow! Damit habe selbst ich nicht gerechnet.«
»Hast du etwas gefunden?« Theo konnte zwar gut lesen, aber mit den Monitoranzeigen tat er sich noch schwer.
»Jede Menge. Da zum Beispiel.« Sie zeigte auf einen der Treffer, wobei sie es tunlichst vermied, die Bildschirmoberfläche zu berühren. »Es gibt ein Buch mit dem Titel Der Diskus von Phaistos – Ein Dokument aus Atlantis. Hat dein Meister dir nicht erzählt, Ys und Atlantis seien ein und dasselbe?«
»Ja. Seiner Ansicht nach müsste der Name richtigerweise Atlant- Ys geschrieben werden, weil er sich aus dem griechischen Atlantis thalassa – das bedeutet ›Meer des Atlas‹ – und dem Wort Ys zusammensetzt.«
Sophias Nacken kribbelte. So fühlte es sich meistens an, wenn sie sich einer aufregenden Entdeckung nahe wähnte. Flugs klickte sie auf eine andere Stelle der Anzeige und rief eine Galerie von Fotos auf den Monitor. Eines stach ihr sofort ins Auge. Es zeigte eine Scheibe aus Ton. Sie wählte das Bild aus und vergrößerte es.
»Wau!« , bellte Theo.
Sophia warf ihm einen irritierten
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