Der verbotene Schlüssel
den Stichworten »Antikythera« und »Projekt« gab es 46 800 Fundstellen. Am liebsten hätte sie Wow! gerufen, verkniff es sich aber, weil sie sich für Theo nicht wie eine bellende Hündin anhören wollte.
»Was sagt deine Luftbibliothek?«, fragte er.
Sie konnte ihren Blick nicht vom Bildschirm losreißen. »Es gibt auf der Welt anscheinend sehr viele Leute, die von einem Antikythera Mechanism Research Project ganz fasziniert sind.«
»Kannst du das für mich übersetzen?«
Sophia ließ ihre Zeigefingerspitze in auffällig großem Abstand über die Kurzbeschreibung des ersten Treffers hinwegschweben. Er stammte von der englischsprachigen Website antikythera-mechanism.gr, wurde also vermutlich auf einem Server in Griechenland ins Netz gestellt. Während sie las, übertrug sie den Text gleichzeitig ins Deutsche: »›Eine akademische Studie zum besseren Verständnis der Funktion und Bedeutung des Antikythera-Mechanismus.‹« Sie blickte vom Monitor auf und sah ihm in die Augen. »Denkst du gerade, was ich denke?«
Er holte Luft, doch ein Klopfen an der Zimmertür hinderte ihn an der Antwort.
Beide Köpfe wandten sich dem Geräusch zu.
»Ob der Herbergsvater seine Hausregeln überprüfen will?«, flüsterte sie.
»Welche Regeln?«
Es pochte erneut. Eine gedämpfte Stimme, die eindeutig nicht dem vielseitig begabten Chef des Hauses gehörte, rief: »Sophia Kollin? Bist du im Zimmer? Da will dich jemand sprechen.«
Sophia reichte Theo den Computer und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. »Wer ist denn da?«
»Ich bin Paul. Dein Zimmernachbar. War gerade zufällig an der Rezeption, als der Blinde nach dir fragte und …«
Der Blinde!? Sie riss die Tür auf. Vor ihr stand ein vielleicht achtzehnjähriger Bursche mit blonden Haaren, etwa so groß wie Theo. Aus dem Treppenhaus hallte Bommels aufgeregtes Gebell herauf. »Wer?«
»… der Herbergsvater mich losgeschickt hat, damit ich dich hole«, vollendete Paul den unterbrochenen Satz. Sein Blick wanderte an Sophia vorbei und blieb einen Moment an dem im Sofa sitzenden Jungen mit dem Laptop hängen.
»Wir machen gerade unsere Hausaufgaben«, sagte Sophia knapp.
»Na klar«, erwiderte Paul grinsend. »Also, ich hab dir Bescheid gesagt. Der Alte wartet mit ein paar Freunden unten auf dich.«
»Wie sah er denn aus? Dunkler Mantel, Hut, schwarze Brille und Blindenstock?«
Das Hundegebell wurde noch aufgeregter.
»Das ist er. Dein Opa?«
»Von wegen!«, schnappte sie entrüstet. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft an einer Lösung. Den Überbringer der Nachricht mit dem Vermerk Empfänger verzogen einfach wieder nach unten zu schicken, dürfte wenig nützen. Oros hatte sie gefunden, und er würde sämtliche Menschen im Haus in willenlose Maschinen verwandeln, wenn er nicht ohne großes Aufheben sein Ziel erreichte. Da es nur ein Treppenhaus gab und man zwangsläufig an der Rezeption vorbeimusste, war an eine Flucht wie in den U-Bahn-Tunneln auch nicht zu denken. Es sei denn …
Sophia schlüpfte in die Rolle des hilflosen Mädchens. »Mein Opa ist gerade gestorben. Der da unten ist ein Erbschleicher der übelsten Sorte. Er schreckt vor nichts zurück, um mir meinen Anteil abzujagen.«
Paul neigte den Oberkörper zur Seite, um Theo besser sehen zu können. »Und dein Mitschüler da? Hat er auch von deinem Opa geerbt?«
»Könnte man so sagen. Er ist so was wie sein Patenkind.« Sophia zauberte ein liebreizendes Lächeln auf ihr Gesicht, hob die Stimme um etwa eine Oktave. »Pa-aul, könntest du mir einen Riesengefallen tun? Ich geb dir auch zwanzig Euro.«
»Klar, wenn ich nicht in den Knast dafür muss.«
Sie trat von der Tür zurück und lockte ihn mit dem Zeigefinger ins Zimmer. »Dann komm schnell rein. Das wird ein Riesenspaß!«
Paul kam sich in der Kluft, die ihm die Kleine aufgeschwatzt hatte, ziemlich bescheuert vor. In Kleiderfragen war das 16. Jahrhundert eindeutig out. Der komische Heugeruch gefiel ihm auch nicht. Aber für zwanzig Euro konnte man sich schon mal zum Affen machen. Was die Blondine nur damit gemeint hatte, er solle sich von dem Blinden nicht anfassen lassen? Ob der Alte pervers war?
Als Eishockeyspieler verfügte Paul über die nötige Beweglichkeit, sich auch im dichten Getümmel durchzusetzen. Wenngleich ihm hier die Schlittschuhe fehlten, rechnete er sich doch gute Chancen aus, die ihm von Sophia Kollin gestellte Aufgabe mit Bravour zu meistern. Während er auf dem Treppenpodest um die Ecke bog und die letzten Stufen zur
Weitere Kostenlose Bücher