Der verbotene Schlüssel
jetzt schlafen?«, fragte Theo besorgt.
»Wieso ich?«, erwiderte Sophia gereizt. Die beiden liefen mit langen Schritten in Richtung Potsdamer Platz. »Deine Starre ist zu Ende. Du musst dir jetzt auch eine Brücke suchen.«
»Brücke?«
»Ein Nachtquartier.«
»Ich finde, wir sollten diese Stadt so schnell wie möglich verlassen.«
»Du meinst, weil wir Oros sonst bald wieder an der Hacke haben?«
Er nickte. »Kann man um diese Zeit noch eine Rikscha bekommen?«
»Ich glaube, wir brauchen etwas Flotteres. Am Flughafen laufen zu viele Polizisten herum, aber die Bahn wäre nicht schlecht.«
»Hat dir das Chaos im Tartaros von Berlin nicht gereicht?«
»Stimmt auch wieder. Vielleicht können wir per Anhalter abhauen.«
»Die Frage ist nur, wohin? Um meine Freunde zu befreien, müssen wir die Weltenuhr reparieren und einen neuen Schlüssel anfertigen lassen. Ich wünschte, wir hätten die Pläne, die Meister Hans und seine Zunftgenossen benutzt haben. Ob du in deiner Luftbibliothek darüber etwas findest?«
»Versuchen kann ich’s ja mal.«
Sophia steuerte eine leere Bank an einer Bushaltestelle an und setzte sich. Theo nahm neben ihr Platz. Sie holte das Notebook aus dem Rucksack, er das Einzige, was ihm aus seinem früheren Leben noch geblieben war: den Rückenhorndolch. Um die beiden herum toste der Feierabendverkehr. Während er gedankenversunken mit dem spitzen Metalldorn zu spielen begann, wählte sie sich mithilfe des Computers über ihr Handy ins Internet ein und begann mit der fieberhaften Suche nach den Konstruktionsplänen des Nürnberger Eis.
»Zeit ist Erinnerung«, hörte sie irgendwann Theo neben sich sagen.
Sie blickte irritiert vom Bildschirm auf. »Was?«
Er wies mit dem Horndolch auf den hektischen Verkehr. »Ich frage mich, an wie viel von ihrem Leben sich die Menschen, die hier durch den Alltag hetzen, später noch erinnern werden. Eure Alten müssen sehr arme Menschen sein.«
»Sie lenken sich ab. Mit ihren Fernsehern.« Sophia merkte, wie aggressiv ihre Stimme klang. Obwohl er bestimmt nur aussprach, was er dachte, kam sie sich von ihm irgendwie angegriffen vor.
»Früher war das ganz anders.«
»Oh ja, klar! Du hörst dich an wie ein Opa. Früher hatten wir auch einen Kaiser.«
Sie vertiefte sich wieder in ihre Recherche. Nach einer Weile merkte sie, wie Theo jedes Mal kleine Laute der Verblüffung von sich gab, wenn sie die erstaunlichsten Bilder und Nachrichten in ihren kleinen weißen Kasten zauberte. Sie überflog Seiten zum griechischen Universalgelehrten Poseidonios von Apameia. Sie fand Einträge über Geminos von Rhodos, dessen Buch Eisagoge eis ta phainomena – »Einführung in die Phänomene« – unter den Gelehrten seiner Zeit viel Aufmerksamkeit gefunden habe. Und sie hüpfte über Informationsschnipsel zu den drei genialen Uhrmachern aus dem 16. Jahrhundert, deren Uhrwerke so klein waren und so präzise arbeiteten, wie es zu ihrer Zeit kaum möglich schien. Doch über die Pläne der Weltenuhr schwieg sich das Internet aus.
Nach einer guten Viertelstunde lehnte sie sich entnervt zurück, strich sich das herabgefallene Haar aus dem Gesicht und stöhnte: »Nichts!«
»Gar nichts?«, fragte Theo erstaunt. Er musste einen anderen Eindruck gewonnen haben.
»Eigentlich zu viel. In die Luftbibliothek, wie du sie nennst, kann jeder Schnösel reinschreiben, wonach ihm gerade der Sinn steht. Allein, was ich in den letzten Minuten nur gestreift habe, könnte mich für den Rest meines Lebens beschäftigen. Wir suchen die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.«
»Vielleicht zäumen wir das Pferd nur von der falschen Seite auf. Fangen wir einfach damit an, nach einem Meister zu suchen, der das Nürnberger Ei genau unter die Lupe nimmt. Diese Wendung hat dein Großvater oft benutzt. Du stammst doch aus einer Uhrmacherfamilie. Kennst du nicht irgendjemanden?«
»Irgendjemanden? Wir bräuchten einen, dem man ohne Einschränkung vertrauen kann. Sonst passiert uns das Gleiche wie damals Poseidonios mit Agamemnon und Tigranes und Pompeius und wie sie alle hießen. Ich kenne zwar ein paar gute Uhrmacher, aber ich würde für keinen meine Hand ins Feuer legen.«
Er nickte. Eine Weile lang ließen sie ihre Gedanken im Straßenlärm dahintreiben. Als irgendwo ein Auto hupte, fuhr Theos Kopf ruckhaft nach oben. »Oles Schwester!«
Sophia spannte den Rücken. »Was?«
»Deine … wie nanntest du das?«
»Großtante? Du hast recht. Sie könnte jemanden kennen. Vielleicht ist sie
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