Der verbotene Schlüssel
Rezeption vor ihm auftauchten, rief er sich die anderen Verhaltensmaßregeln des Mädchens in den Sinn: Sag nichts! Schau nur runter, am besten zur Wand. Bleib nicht stehen! Drück die Plastiktüte an deine Brust, als wären keine Klorollen, sondern dein eigenes Herz drin. Notfalls schubse deine Gegner zur Seite. Renne so schnell du kannst! Und lass dich auf keinen Fall erwischen!
Aus den Augenwinkeln sah er den weißen Stock und die schwarzen Schuhe des Blinden, der sich ihm beim ersten Geräusch derknarrenden Treppe sofort zuwandte und Erleichterung heuchelte.
»Ich bin froh, dass du endlich vernünftig geworden bist, Junge.«
Paul hielt sein Gesicht gesenkt und lief rasch weiter.
»Wo ist das Mädchen?«
Er klammerte sich an die Tüte, als wäre sie sein Leben. Noch fünf Stufen.
Der Blinde begann, auf die Treppe zuzulaufen, und streckte die Hand aus. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
Sag nichts! Noch eine Stufe. Lass dich bloß nicht von ihm anfassen!
»Haltet ihn auf!«
Der Ruf des angeblich zu Handgreiflichkeiten neigenden Greises war für Paul wie der Startschuss zu einem Hundertmeterhindernislauf. Er duckte sich unter dem ausgestreckten Arm des Erbschleichers hindurch und steckte in Gedanken blitzschnell seinen Parcours zwischen den Männern und Frauen ab, die ihn am Erreichen der Haustür hindern wollten. Die Leute waren keine ernst zu nehmenden Mitspieler, so hölzern, wie sie sich bewegten.
Die erste Gegnerin, ein Muttchen mit rosa Hut, ließ er durch eine geschickte Körpertäuschung ins Leere laufen. Sogleich stellte sich ihm ein kräftiger Mann mit Schutzhelm und tätowierten Armen in den Weg. Paul streckte ihm die Tüte entgegen. Als der Bauarbeiter mechanisch danach griff, tänzelte er nach rechts und sah sich sofort mit einem Fettkloß in Malerkleidung konfrontiert. Der junge Mann versuchte sich an ihm vorbeizuschlängeln, doch der Dicke packte ihn am Arm. Paul wirbelte herum und trat ihm rückwärts in die Weichteile – ein klares Foul, aber der Klops ließ ihn los und rollte sich vor Schmerzen zusammen.
Wieder frei, beschrieb Paul zur Verwirrung seiner Gegenspieler einen Halbkreis nach rechts. Dabei touchierte er eine Rentnerin, die das Gleichgewicht verlor und zu kippen begann.
Jetzt hatte er die engste Stelle der Hindernisbahn erreicht, einen Flur mit einer kleinen Treppe, die kurz vor dem Ausgang endete. Zwei Hürden waren noch zu nehmen: die linke sah aus wie ein schnauzbärtiger Bulldozer im Nadelzwirn und die rechte, zwei Stufen tiefer stehend, wie ein leichtes Mädchen von der Potsdamer Straße.
Allein die schiere Masse des Mannes im Anzug konnte einem Herzbeklemmungen verursachen – auf Schlittschuhen war man eher selten solchen Gegnern ausgesetzt. Der Schnauzbart breitete die Arme aus wie ein Bagger sein Greifwerkzeug. Paul versuchte es mit einer erneuten Körpertäuschung nach rechts, doch ebenso wie Raupenfahrzeuge war auch dieser Fleischberg zu träge, um darauf angemessen zu reagieren. Seine Hände griffen nach dem Hindernisläufer. Der wusste sich nicht anders zu helfen, als mit einem enormen Satz nach links oben zu springen, obwohl dort kaum Platz zum Durchkommen war. Er trat auf Höhe seines Gegners, etwa anderthalb Meter über den Stufen, gegen die Wand und katapultierte sich hinter ihm sofort wieder auf die Treppe zurück.
Die Schnepfe hatte seine Finte vorausgesehen und flatterte mit ihrem durchsichtigen Tüllblüschen in den freien Raum zwischen Bulldozer und Tür. »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!«, verlangte sie schrill. Paul unterbrach ihr Gepiepse mit einem harten Bodycheck, der sie wie einen Eishockeypuck aus dem Weg schoss.
Am Ziel – der Haustür – angelangt, warf er einen Blick zurück und lächelte grimmig. Er hatte schon immer einmal den Spruch sagen wollen: Ich habe nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Zufrieden mit der Lösung der Aufgabe, riss Paul die Tür auf und rannte so schnell er konnte mit seinem Toilettenpapier davon.
Sophia und Theo lauschten. Im Eingangsbereich war es still geworden, sah man einmal vom kläffenden Bommel und seinem Herrchen ab, das an der Besänftigung des Hundes zu verzweifeln drohte.
»Nichts wie weg!«, flüsterte Sophia und zurrte ihren Rucksack fest.
Seite an Seite liefen sie die Treppe hinab. An der Rezeption knallte sie dem konsternierten Herbergsvater einen Fünfzigeuroschein auf den Tresen, rief »Der Rest ist für Sie!« und machte sich mit ihrem Freund aus dem Staub.
20
Und wo wirst du
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