Der Verdacht
welchen Bärlach nur mühsam und mit Entsetzen das Antlitz der Ärztin erkannte, die er mit Emmenberger im Operationssaal gesehen hatte. Er starrte sie, müde und von Ekel geschüttelt, an. Ohne sich um den Kommissär zu kümmern, streifte sie den Rock zurück und stieß sich eine Spritze durch den Strumpf in den Oberschenkel; dann, nachdem sie die Injektion gemacht hatte, richtete sie sich auf, zog einen Handspiegel hervor und schminkte sich. Gebannt verfolgte der Alte den Vorgang. Er schien für das Weib nicht mehr vorhanden zu sein. Ihre Züge verloren das Gemeine und bekamen wieder die Frische und die Klarheit, die er an ihr bemerkt hatte, so daß, unbeweglich an den Türpfosten gelehnt, nun die Frau im Zimmer stand, deren Schönheit ihm bei seiner Ankunft aufgefallen war.
«Ich verstehe», sagte der Alte, langsam aus seiner Erstarrung erwachend, aber noch immer erschöpft und verwirrt. «Morphium.»
«Gewiß», sagte sie. «Das braucht man in dieser Welt – Kommissär Bärlach.»
Der Alte starrte in den Morgen hinaus, der sich verfinsterte; denn nun floß draußen der Regen nieder, hinein in den Schnee, der von der Nacht her noch liegen mußte, und dann sagte er leise, wie beiläufig:
«Sie wissen, wer ich bin.»
Dann starrte er wieder hinaus.
«Wir wissen, wer Sie sind», stellte nun auch die Ärztin fest, immer noch an die Türe gelehnt, beide Hände in den Taschen ihres Berufsmantels vergraben.
Wie man darauf gekommen sei, fragte er und war eigentlich gar nicht neugierig.
Sie warf ihm eine Zeitung aufs Bett.
Es war ‹Der Bund›.
Auf der ersten Seite war sein Bild, wie der Alte gleich feststellte, eine Aufnahme vom Frühling her, da er noch die Ormond-Brasil rauchte, und darunter stand: Der Kommissär der Stadtpolizei Bern, Hans Bärlach, in den Ruhestand getreten.
«Natürlich», brummte der Kommissär.
Dann sah er, als er nun verblüfft und verärgert einen zweiten Blick auf die Zeitung warf, das Datum der Ausgabe.
Es war das erste Mal, daß er die Haltung verlor.
«Das Datum», schrie er heiser: «Das Datum, Ärztin! Das Datum der Zeitung!»
«Nun?» fragte sie, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen.
«Es ist der fünfte Januar», keuchte der Kommissär verzweifelt, der nun das Ausbleiben der Neujahrsglocken, die ganze fürchterliche vergangene Nacht, begriff.
Ob er ein anderes Datum erwartet habe, fragte sie spöttisch und sichtlich auch neugierig, indem sie die Brauen ein wenig hob.
Er schrie: «Was haben Sie mit mir gemacht?» und versuchte, sich aufzurichten, doch fiel er kraftlos ins Bett zurück.
Noch einige Male ruderten die Arme in der Luft herum, dann lag er wieder unbeweglich.
Die Ärztin zog ein Etui hervor, dem sie eine Zigarette entnahm.
Sie schien von allem unberührt zu sein.
«Ich wünsche nicht, daß man in meinem Zimmer raucht», sagte Bärlach leise, aber bestimmt.
«Das Fenster ist vergittert», antwortete die Ärztin und deutete mit dem Kopf dorthin, wo hinter den Eisenstäben der Regen niederrann.
«Ich glaube nicht, daß Sie etwas zu bestimmen haben.»
Dann wandte sie sich dem Alten zu und stand nun vor seinem Bett, die Hände in den Taschen des Mantels.
«Insulin», sagte sie, indem sie auf ihn niederblickte. «Der Chef hat eine Insulinkur mit Ihnen gemacht. Seine Spezialität.» Sie lachte: «Wollen Sie den Mann denn verhaften?»
«Emmenberger hat einen deutschen Arzt namens Nehle ermordet und ohne Narkose operiert», sagte Bärlach kaltblütig. Er fühlte, daß er die Ärztin gewinnen mußte.
Er war entschlossen, alles zu wagen.
«Er hat noch viel mehr gemacht, unser Doktor», entgegnete die Ärztin.
«Sie wissen es!»
«Gewiß.»
«Sie geben zu, daß Emmenberger unter dem Namen Nehle Lagerarzt in Stutthof war?» fragte er fiebrig.
«Natürlich.»
«Auch den Mord an Nehle geben Sie zu?»
«Warum nicht?»
Bärlach, der so mit einem Schlag seinen Verdacht bestätigt fand, diesen ungeheuerlichen, abstrusen Verdacht, aus Hungertobels Erbleichen und aus einer alten Fotografie herausgelesen, den er diese endlosen Tage wie eine Riesenlast mit sich geschleppt hatte, blickte erschöpft nach dem Fenster. Dem Gitter entlang rollten einzelne, silbern leuchtende Wassertropfen. Er hatte sich nach diesem Augenblick des Wissens gesehnt, als nach einem Augenblick der Ruhe.
«Wenn Sie alles wissen», sagte er, «sind Sie mitschuldig.»
Seine Stimme klang müde und traurig.
Die Ärztin blickte mit einem so merkwürdigen Blick auf ihn nieder, daß ihn ihr
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