Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Darum möchte ich singen, aber natürlich tue ich es nicht. Das würde sich schlecht ausnehmen. Ein unrasierter, ziemlich abgerissener Mann, der in einem Gebüsch sitzt und singt. Ich hätte sofort eine ganze Armee wohlanständiger Bürger auf dem Hals, die mich aller möglichen Unsittlichkeiten verdächtigen würden. Das kann ich mir zur Zeit nicht leisten. Gegen mich läuft ein Haftbefehl. Ich darf unter keinen Umständen auffallen.

    Ich sehe inzwischen so verwahrlost aus, daß ich mich nicht einmal mehr ins Schwimmbad traue. Das hängt auch mit dem fürchterlichen Wetter zusammen. Es regnet heute fast ununterbrochen, und mein luxuriöses Quartier unter den Büschen weicht immer mehr auf. Ich bin dreckig und naß wie eine Kanalratte. In der letzten Nacht habe ich mir ein Herz gefaßt und bin zu dem kleinen Geräteschuppen hinten im Garten gegangen, habe die Fensterscheibe eingeschlagen und bin hineingekrochen. Ich wollte das eigentlich nicht, denn ich hatte immer Angst, das kaputte Fenster könnte jemandem auffallen, aber nun blieb mir keine Wahl mehr. Ich hatte gehofft, ein paar Kissen und Decken zu finden, aber – Fehlanzeige! Hier stehen nur Gartengeräte herum, Eimer, Schaufeln, ein Rasenmäher. Immerhin ist es trocken, auch wenn es furchtbar modrig und klamm riecht. Ich rollte mich auf dem Fußboden zusammen und versuchte zu schlafen. Wenn es wie aus Kübeln schüttet, habe ich nun ein Dach über dem Kopf, aber trocken werde ich trotzdem nicht mehr.
    Im Supermarkt habe ich mir heute ein Stück Seife gekauft – die anderen Kunden hielten angemessen Abstand zu mir in der Kassenschlange –, und dann bin ich damit ins Bahnhofsklo gegangen und habe mich gewaschen, so gut es ging. Außer mir war nur noch ein Junkie da, der mich irgendwie verklärt ansah und dann meine Seife haben wollte. Er bekam sie natürlich nicht. Ich muß sparsam sein, mein Geld wird immer knapper.
    Ich fühlte mich ein wenig sauberer, aber das wichtigste wäre, meine Kleidung zu waschen. Mein Wollpullover hat sich vollgesogen mit Nässe und stinkt wie ein Hund, der in den Regen gekommen ist. In meinem augenblicklichen Zustand gewinne ich Leonas Gunst sicher nicht zurück. Ich sehe das an den Blicken der Frauen, denen ich auf der
Straße begegne, sie sind angewidert und abweisend. Solange ich denken kann, haben mich Frauen erwartungsvoll und herausfordernd angesehen. Ich habe eine starke Wirkung auf sie. Ich glaube, mein Aussehen hat die richtige Mischung aus Attraktivität, Zuverlässigkeit und jungenhaftem Charme. Das mag sich eingebildet anhören, ist aber einfach eine Tatsache. Ich hatte mit Frauen nie Probleme. Ich lächelte sie an, und in neun von zehn Fällen lächelten sie zurück.
    Manchmal freue ich mich fast auf die Zeit, in der sich Psychiater mit mir befassen werden. Irgendwann lande ich im Gefängnis, da mache ich mir nichts vor, und dann werden die Freud-Anhänger geballt auf mich losgelassen werden. Wenn man nicht gerade ein Terrorist ist und zwecks Gesellschaftsumsturz oder Weltveränderung tötet, versuchen sie einem immer irgendeine seelische Deformierung oder Psychose unterzujubeln, kaum daß man einen oder mehrere Morde begangen hat.
    Sie werden sich schwertun bei mir. Sie werden versuchen herauszufinden, ob ich womöglich zeitlebens von Frauen immer wieder verächtlich oder kränkend behandelt wurde, was, wie gesagt, nicht der Fall war, oder ob ich als Kind mißbraucht oder grausam vernachlässigt wurde. Auch hier werden sie Pech haben. Die Familienumstände waren nicht eben lustig, aber sie stellten beileibe keine Katastrophe dar.
    Mama trank zuviel, aber wenn sie dann im Suff in Rage geriet, ließ sie ihre Aggressionen an Vater aus, nicht an Eva und mir. Und Vater selbst ging immer wieder fremd, was ich widerlich fand, was aber Mama natürlich weit mehr betraf als mich. Vater sah sehr gut aus. Er mußte nur mit dem Finger schnippen, schon konnte er praktisch jede Frau haben. Er hatte dunkle Haare wie ich und schmale,
braungrüne Augen. Mama verlor jedesmal die Fassung, wenn sie von einem erneuten Seitensprung erfuhr. Sie konnte zur Furie werden, zu einem schlagenden, beißenden, tretenden Wutpaket. Vater, obwohl gut einen Kopf größer als sie, hatte Angst vor ihr in solchen Momenten, das konnte man ihm ansehen. Ich glaube, er dachte das gleiche wie ich: Irgendwann greift sie zum Messer.
    Als sie es schließlich tat, wurde das für sie zur Katastrophe, nicht für ihn. Sie war zu betrunken, um zielgerichtet zustechen

Weitere Kostenlose Bücher