Der Verehrer
sie mit ihnen reden?
Sie erinnerte sich an das verstörte Gesicht ihres Chefs, als sie ihm von der ganzen Geschichte erzählt hatte. Sie mußte das tun, weil sie Urlaub brauchte, um auf unabsehbare Zeit unterzutauchen. Ihr Chef hatte im Zusammenhang mit der Fahndung von Robert in der Zeitung gelesen, jedoch keine Ahnung gehabt, daß eine seiner engsten Mitarbeiterinnen in diese Angelegenheit verwickelt war. Natürlich hatte er ihr unbefristeten Urlaub bewilligt, was sollte er auch anderes tun?
»Das ist eine unglaubliche Geschichte«, hatte er immer wieder gesagt, »wirklich eine ganz unglaubliche Geschichte!«
Genau deshalb fühlte sie sich so einsam. Wegen des Bewußtseins, Teil einer »unglaublichen Geschichte« zu sein. Was ihr passiert war, passierte einem Menschen normalerweise nicht. Sie hatte plötzlich den Status einer Exotin mit Gruseleffekt erlangt. Mit ihren Kolleginnen hatte sie stets über die gemeinsame Arbeit gesprochen, über Liebeskummer, Diäten, Kinofilme und Urlaubsziele. Wie sollte jemand die Besonderheiten verstehen, die sich aus dem Zusammenleben mit einem Psychopathen ergaben? Die zum Schluß in einer Hetzjagd endeten, in Todesangst und bitterernsten Versteckspielen. Wie sollten andere Menschen reagieren, außer mit Betroffenheit und einer ersten leisen, nicht übersehbaren Distanz, wie sie auftritt angesichts einer Krankheit, von der man noch nicht weiß, ob sie ansteckend ist.
Sie blätterte in ihrem Adreßbuch. Sehr langsam, sehr zögernd wählte sie Bernhard Fabianis Nummer.
Absolut keinen Kontakt mit irgendeiner Person aufzunehmen war die Grundlage aller Absprachen zwischen ihr und Wolfgang gewesen. Zwei Menschen auf der Welt sollten wissen, wo sich Leona aufhielt, und das waren Leona selbst und Wolfgang. Sonst niemand.
Ich sage ihm nicht, wo ich bin, dachte sie, ich will nur reden. Nur ein paar Minuten reden.
Mit einem Menschen, der nicht den Makel an ihr sah, mit einem Ungeheuer in Berührung gekommen und davon gezeichnet zu sein. Mit einem Menschen, der jene fatale Berührung selber erlebt hatte. Sie hatte das gleiche Gefühl wie damals, als sie sich zum zweiten Mal mit Fabiani getroffen hatte: Wenn es eine Infizierung gab, dann waren sie beide davon betroffen.
Müde und resigniert wollte sie schon wieder auflegen, da meldete sich Bernhard endlich. »Ja, bitte?« Er klang abgehetzt und genervt.
Leona, verwirrt, daß sie ihn überhaupt noch erreicht hatte, stotterte: »Oh … ich wollte nicht stören …«
»Leona?« Seine Stimme veränderte sich sofort. »Wie schön, daß Sie sich melden! Ich habe immer wieder auf Ihren Anrufbeantworter gesprochen, aber Sie haben nie zurückgerufen. Dann habe ich es in Ihrem Büro versucht, aber dort sagte man, Sie seien beruflich verreist.«
Wolfgang hatte ihr kein Wort von Bernhards Anrufen gesagt.
»Ich bin untergetaucht«, sagte sie.
Bernhard begriff sofort. »Wegen Robert.«
»Ja. Es scheint meine einzige Chance zu sein. Ich hatte das sichere Gefühl, daß ich andernfalls …«
Sie vollendete den Satz nicht. Bernhard wußte ohnehin, was sie meinte.
»Ich denke, da haben Sie sehr vernünftig gehandelt«, sagte er.
Sein Verständnis, seine ruhige Stimme waren wie Balsam.
»Ich bin froh, Sie erreicht zu haben«, sagte sie.
»Keine Minute zu früh. Ich bin eben erst nach Hause gekommen. « Er lachte. »Wo sind Sie, Leona?«
»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie das nicht wissen.«
»Ich würde zu keiner Menschenseele davon sprechen.«
»Das weiß ich. Es ist auch nur … ich habe Angst, am Telefon eine Adresse zu nennen.«
»Ich werde bestimmt nicht angezapft. Das könnte Robert gar nicht bewerkstelligen.«
»Ich komme Ihnen sicher ziemlich albern vor. Hysterisch. «
»Nein. Sie kommen mir vor wie eine Frau, die große Angst hat und es darüber nicht mehr schafft, die Dinge in den richtigen Dimensionen zu sehen. In Ihrer Situation ist das allerdings nur allzu verständlich. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die würden die Nerven weit mehr verlieren, als Sie das tun.«
Es tat Leona gut zu hören, daß sie auf ihre Umwelt offenbar noch nicht völlig durchgedreht wirkte.
»Meine Nerven sind zerrütteter, als es vielleicht den Anschein hat«, sagte sie, »es ist eine unerträgliche Situation. Ich komme mir vor wie eine Maus, die in ihrem Mauseloch sitzt, während draußen eine Katze herumschleicht, die genau weiß, daß die Maus irgendwann wieder hervorkommen muß. Die Katze muß nichts tun, als zu warten.«
»Die Katze wird
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