Der Verehrer
ganz durcheinander«, fuhr Lisa fort. »Ich meine, es ist ja nicht so, daß ich nur einfach weiß , wer es war. Ich kenne den Mann sogar. Er ist in unserem Haus aus und ein gegangen. Er war immer freundlich und nett, und ich …« Sie stockte erneut.
»Ja?« fragte Hülsch vorsichtig.
»Ich fand ihn recht anziehend«, sagte sie leise, »als Mann, verstehen Sie? Er hockte da wie eine heimtückische Spinne in unserem Haus und lauerte auf sein Opfer, meine Schwester, und ich schaute ihn an und stellte mir manchmal vor …«
Wiederum sprach sie nicht weiter, aber Hülsch hakte diesmal nicht nach. Er konnte sich denken, was sie sich vorgestellt hatte.
»Sie konnten nicht wissen, wer er ist«, sagte er.
»Ich mache mir ja auch eigentlich keine Vorwürfe«, entgegnete Lisa, und das einschränkende eigentlich verriet, daß sie sich wohl gelegentlich doch welche machte. »Aber irgendwie ist alles in mir durcheinander. Ich weiß jetzt, daß ich den Mann kannte, mit dem meine Schwester gelebt hat, von dem sie ermordet wurde. Ich sehe ihn ständig vor mir. Er hatte eine schöne Stimme. Er hat meinem Vater manchmal aus der Zeitung vorgelesen, und ich dachte jedesmal, was für eine angenehme Stimme er doch hat!«
»Ihre Schwester hat Jablonski ja offenbar einige Jahre lang geliebt. Wenn er nicht an jenen Stellen getroffen wurde, an denen seine Psychose wurzelt, hatte er sicher liebenswerte und anziehende Seiten.«
»Das schlimme ist, daß ich an gar nichts anderes mehr denken kann«, sagte Lisa, »es ist, als könnte ich einfach nicht abschließen mit alldem. Direkt nach Annas Tod hatte ich nie schlechte Träume, aber jetzt sehe ich sie im Schlaf vor mir, tot und blutig und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und wenn ich dann aufwache, bin ich schweißnaß am ganzen Körper und muß an Benno denken – ich meine, an Robert Jablonski. Für mich heißt er immer noch Benno.«
»Als solchen haben Sie ihn ja auch kennengelernt.«
»Ich sage mir immer, daß mich das alles nichts mehr angeht. Anna ist tot, sie wird nicht wieder lebendig, wenn ich dauernd an sie denke oder mich verrückt mache. Aber es ist nur mein Kopf, der so vernünftig ist. Meine Gefühle machen, was sie wollen, und ich kann sie einfach nicht in den Griff bekommen.«
Hülsch war kein Psychologe, aber ihm war klar, daß es bei Lisa nach allem, was sie im Verlauf des letzten Jahres durchgemacht hatte, irgendwann zu einem seelischen Zusammenbruch kommen mußte, und es schien ihm, als befinde sie sich bereits auf dem direkten Weg dorthin.
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich in die Hände eines Therapeuten zu begeben?« fragte er. »Nach meiner Ansicht müßten Sie über Ihre Probleme unbedingt mit einer Vertrauensperson reden. Am besten mit jemandem, der Ihnen auf professionelle Art helfen kann, mit den Dingen fertig zu werden.« Er sah sie abwartend an.
Lisa zögerte. »Mein Vater hat immer gesagt, Psychologen sind Quacksalber. Nur Nichtsnutze gehen dorthin und kosten die Krankenkassen viel Geld.«
Vorurteile, dachte Hülsch, sterben nie aus.
»Ihr Vater hat da vielleicht ein wenig zu pauschal geurteilt«, meinte er.
»Es könnte mir so gutgehen«, sagte Lisa und sah dabei aus, als glaubte sie ihren eigenen Worten nicht recht. »Ich habe eine tolle Wohnung. Einen Superjob! Sie können sich nicht vorstellen, wie interessant meine Arbeit ist!«
Er musterte sie betrübt. War es wirklich so interessant, sich zu verkaufen?
»Doch, doch«, sagte er mit einem hörbaren Mangel an Begeisterung in der Stimme.
»Ich glaube, ich könnte wieder Boden unter die Füße bekommen. Ich müßte nur einmal mit jemandem reden.«
»Wie ich gesagt habe: Sie sollten zu einem …«
Sie unterbrach ihn: »Nein, ich dachte an einen Menschen, der Benno … der Robert Jablonski kennt. Der ihn vielleicht sogar mit Anna zusammen erlebt hat. Der mir etwas erzählen kann über das Verhältnis zwischen den beiden. «
»Lisa, ich weiß nicht, ob …«
»Ich grüble dauernd über die beiden nach. Und ich bin sicher, ich könnte damit aufhören, wenn ich endlich etwas Genaues wüßte . Vielleicht könnte ich die Geschichte dann abhaken und endlich wieder leben!«
Sie sah ihn eindringlich an, ein Kind, das eine wunderbare Idee hat und nun dafür gelobt werden will.
Wie soll ich jetzt die geeignete Person für sie aus dem Boden stampfen? fragte er sich. Er fühlte sich von ihrem erwartungsvollen Blick in die Enge getrieben – und von seinen eigenen Gedanken: Er verstand sie. Er
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