Der Verehrer
abend habe ich dich besser kennengelernt als in all den Jahren vorher. Ich hielt dich für eine verzogene Göre und nichts weiter. Aber du hast tatsächlich auch eine andere Seite.«
Carolin stand auf. »Das ist gar nicht merkwürdig. Krisen bringen die besten oder die schlechtesten Seiten in einem Menschen ans Tageslicht. Wenn es bei mir die guten sind, haben wir einfach Glück gehabt.«
Der Regen machte alles schlimmer. Er rauschte wie eine Wand vom Himmel, seit dem frühen Morgen. Über Mittag war er für einige Stunden schwächer geworden, und Leona hatte einen Spaziergang unternommen, um nicht verrückt zu werden zwischen den Wänden ihres Gefängnisses. Mit durchweichten Schuhen und nassen Hosen war sie zurückgekommen. Der Wind hatte ihren Schirm zerbeult und den Regen statt von oben von vorn gegen sie geweht. Für gewöhnlich mochte sie es, bei extremem Wetter
hinauszugehen, vor allem, weil das Heimkommen dann so schön war. Diesmal mochte sich dieser Effekt nicht einstellen. Keine Lust auf heißen Tee. Keine Vorfreude auf ein spannendes Buch. Der Nachmittag lag lang, verregnet und hell vor ihr. Früh einfallende Novemberdunkelheit wäre Leona angebrachter erschienen und hätte sie vielleicht auch ein wenig beruhigt. Trotz des schlechten Wetters war es ein Frühsommertag, der keinen raschen Abschied versprach. Es war ein Tag, der ihr gnadenlos vor Augen hielt, daß irgendwo das Leben spielte, während sie hier saß und Däumchen drehte, daß sie ihre Zeit vertat, daß sie nutzlos dem zähen Verrinnen von Stunden und Minuten zusah und auf etwas wartete, wovon sie weder wußte, was es war, noch wie es aussehen würde. Am Abend zuvor hatte sie dies Wolfgang gegenüber formuliert. Daß sie nicht wisse, worauf sie warte.
Erstaunt hatte er erwidert: »Du … wir warten auf Jablonskis Festnahme. Oder nicht?«
Sie konnte ihm nicht widersprechen, denn er hatte recht. Wie hatte sie so dumm fragen können? Trotzdem war das Gefühl geblieben, und heute, während des Spazierganges, hatte sie plötzlich begriffen, weshalb sie meinte, nicht zu wissen, worauf sie wartete in dieser Einöde: Im tiefsten Innern war sie davon überzeugt, daß die Polizei Robert nie fassen würde. Sie hätte niemandem eine Begründung für dieses Wissen nennen können, und doch zweifelte sie keinen Moment lang an seiner Richtigkeit. Die Geschichte mußte auf eine andere Art zu Ende gehen, und sie hatte keine Ahnung, wie.
Naß und verfroren, wie sie war, nahm sie daheim eine lange, heiße Dusche, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß überall im Haus Fenster und Türen fest verschlossen waren. Seit Psycho hatten vorgezogene Duschvorhänge ihre Unschuld verloren.
Ich denke nur noch in diesen Kategorien, überlegte sie, während sie den Kopf zurückbog und das Wasser über ihr Gesicht strömen ließ. Eigenartig, wie schnell das gehen kann. Früher ging es um meine Arbeit. Jetzt nur noch um Robert.
Irgendwie brachte sie den Nachmittag hinter sich. Die Taschenbücher, die sie sich im Dorf gekauft hatte, waren ausgelesen. Morgen würde sie neue brauchen. Aber im Grunde half ihr das Lesen nicht wirklich. Sie mußte Arbeit haben. Im Verlag quoll ihr Schreibtisch vermutlich über. Aber mehr noch als alles andere brauchte sie einen Menschen. Zum Reden. Zum Anschauen, zum Anfassen. Sosehr sie den Telefongesprächen mit Wolfgang entgegenfieberte, so wenig vermochten sie sie zu befriedigen. Er war so weit weg. Alle waren so weit weg.
Endlich wurde es dunkel, und das Gefühl der völligen Nutzlosigkeit verlor an Intensität. Leona ging erneut durchs Haus, prüfte Fenster und Türen. Keller, Erdgeschoß, erster Stock. Auf den Speicher kletterte sie nicht hinauf. Durch die Dachluke würde kaum ein Kind ins Haus hineingelangen können.
Obwohl sie vereinbart hatten, nie über den Telefonanschluß daheim miteinander zu sprechen, wählte Leona schließlich ihre Nummer. Ihre Unruhe hatte sich über den Tag hinweg so gesteigert, daß sie meinte, die Nerven zu verlieren, wenn sie nicht endlich eine menschliche Stimme hörte. Aber Wolfgang war noch nicht zu Hause. Sie vernahm nach fünfmaligem Klingeln nur ein Klicken und hörte dann sich selbst.
»Leider sprechen Sie nur mit dem Anrufbeantworter von Leona und Wolfgang Dorn. Bitte …« Sie legte den Hörer auf.
Sollte sie Mami anrufen?
Bring deine Familie nicht in Gefahr, riet ihr eine innere Stimme, laß sie aus dem Spiel!
Irgendeine Kollegin? Ihren Chef?
Welchen Sinn hätte es? Worüber sollte
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