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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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lautstarken Auseinandersetzungen richteten in den Seelen einer Sechzehnjährigen und eines Neunzehnjährigen nicht mehr so viel Schaden an wie in denen kleiner Kinder.
    Eva sagte, sie wolle ein Parfüm oder einen Lippenstift. Früher hatte sie sich Puppen gewünscht, dann Tiere (Hamster, Meerschweinchen oder ähnliches, was aber nie erfüllt wurde, da Mama sich einbildete, allergisch zu sein), dann war sie eine Weile hinter Büchern her gewesen, und nun also begann sie ihre Wirkung auf das andere Geschlecht zu entdecken und gierte nach Klamotten oder Schminke. Mir gefiel das gar nicht. Ich schaute sie zwar gern an, wenn sie sich so hübsch zurechtmachte, aber sie tat es nicht für mich, und das nagte an mir.

    »Wozu brauchst du denn noch einen Lippenstift?« fragte ich. »Du hast doch schon gut ein Dutzend!«
    »Lippenstifte kann man nie genug haben«, entgegnete Eva.
    In dem Moment hörten wir, daß Vater kam.
    Ich ging hinunter, um ihn an der Haustür abzufangen und ihm zu sagen, daß Mama auf hundertachtzig war, obwohl er sich das ohnehin denken konnte. Er sah unverschämt gut aus; unverschämt deshalb, weil er einen so schmerzhaften Kontrast bildete zu dem verquollenen, lallenden Wesen, das ihn im Wohnzimmer erwartete. Er war natürlich nüchtern, trug einen gutgeschnittenen Anzug und verströmte den dezenten Duft eines teuren Rasierwassers. Wo immer er gewesen war, er mußte sich vorwiegend im Freien aufgehalten haben, denn seine Haut hatte eine sehr attraktive leichte Bräune angenommen. Vielleicht hatte er mit seiner Geliebten einen Trip in den Süden unternommen. Ich dachte an Mamas geisterhafte Blässe und an ihren Gestank nach Fusel und Schweiß, und plötzlich tat sie mir schrecklich leid.
    »Mama ist total hinüber«, sagte ich und machte mit der Hand eine Bewegung, als ob ich eine Flasche an den Mund setzte.
    Vater seufzte. »Ich gehe zu ihr. Lauf du nach oben, ja?«
    Ich ging nach oben zu Eva. Es folgten das übliche Geschrei und das Klirren von Gegenständen, mit denen Mama nach ihm warf. Ab und zu konnte man dazwischen Vaters beruhigende Stimme hören, aber meistens ging sie in Mamas Kreischen unter.
    Aber dann war plötzlich Stille, eine richtig gespenstische Stille, und schließlich rief Vater, hektisch und offenbar tief erschrocken: »Tu das nicht, Ines! Leg das Ding weg! Bitte …«

    Man hörte die Geräusche von umstürzenden Möbeln, dann schrie Mama, hell und schrill, dann war wieder Stille, und dann schrie Vater: »O Gott, bist du denn wahnsinnig geworden?«
    »Da ist irgend etwas passiert«, sagte ich zu Eva und rannte auch schon die Treppe hinunter.
    Unten sah ich Mama in ihrem Blut liegen, inmitten eines verheerend zugerichteten Zimmers, Vater kauerte neben ihr, völlig aufgelöst, und irgendwo zwischen zerbrochenen Schallplatten und den Scherben der Southern-Comfort-Flasche lag das große, scharfzackige Brotmesser, blutverschmiert, wie eine schaurige Requisite in einem Theaterstück.
    »Einen Notarzt!« rief ich, und Vater erwachte aus seinem Schock und stürzte zum Telefon, wo es dann zu eben jenem tragischen Mißverständnis kam, das Mama ihre letzte Überlebenschance nahm - wobei, wie ein Arzt später versicherte, ihre Chancen ohnehin außerordentlich schlecht gestanden hatten.
    Es gab eine polizeiliche Untersuchung des Falles, denn natürlich lag der Verdacht nahe, Vater habe den tödlichen Stich mit dem Messer geführt. Sowohl seine als auch Mamas Fingerabdrücke befanden sich auf dem Griff, aber das war nicht verwunderlich, denn Vater hatte, wie er erklärte, Mama das Messer aus den Händen gewunden, nachdem sie sich so schwer verletzt hatte. Nach seinen Angaben hatte sie das Brotmesser plötzlich vom Fensterbrett gegriffen, wo sie es offensichtlich schon bereitgelegt hatte, und war dann damit auf ihn losgegangen, habe wie verrückt und vollkommen unkontrolliert mit der Waffe herumgefuchtelt, sei gestolpert und in das Messer gestürzt, und dann habe er nur noch eine Blutfontäne gesehen und von Mama keinen Laut mehr gehört.

    Vater saß einige Wochen in Untersuchungshaft, man unterstellte Fluchtgefahr, und ich dankte Gott, daß ich volljährig war und nicht in die Obhut irgendeiner Fürsorgerin geriet. Eva wurde erlaubt, bei mir zu bleiben, aber alle zwei Tage tanzte eine Tante vom Jugendamt an und sah nach, ob wir auch nicht verwahrlosten und unsere Hälse sauber wuschen. Da mir klar war, daß sie Eva beim ersten geringsten Verdacht auf eine Unregelmäßigkeit in ein Heim

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